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Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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Nummer wählte, hielt ich die halb leere Flasche hoch.
    »Der Rest davon gehört dir«, sagte ich. »Finde raus, ob ich Luther morgen im Ricki’s treffen kann. Und sei munter. Kling nicht so, als ob du zwanzig Stunden bewusstlos in einem Kofferraum gelegen hättest. Wenn du irgendwas versaust, werde ich dich qualvoll verdursten lassen. Hast du mich verstanden? Ich werde dich tagelang am Rande des Wahnsinns vegetieren lassen.« Er nickte. »Halt dich kurz«, mahnte ich, dann drückte ich die Verbindungstaste und hielt ihm das Telefon ans Ohr.
    Ein Mann antwortete nach dem ersten Klingelton. Ich konnte seine Stimme deutlich hören.
    »Hallo?«
    »Luth?«
    »Hey.« Ich tropfte Wasser auf Orsons Gesicht.
    »Wo bist du?«, fragte Orson.
    »Gateway im Westen. Ich überquere gerade den Mississippi. Ich sehe jetzt den Brückenbogen. Und wo bist du?«
    Ich bewegte tonlos meine Lippen: »Im Osten von Nebraska.«
    »Im Osten von Nebraska«, sagte Orson. »Bist du morgen Abend bei Mandy?«
    »Ja, sollen wir morgen im Ricki’s abhängen?«
    »Um wie viel Uhr?«
    »Wie wär’s mit neun? Ich übernachte heute in St. Louis, also werde ich morgen erst spät in Scottsbluff sein.«
    »In Ordnung.« Ich strich mir demonstrativ mit dem Finger über die Kehle. »Hey, Luth, die Verbindung wird schlecht.« Ich drückte die Aus-Taste und steckte das Telefon wieder in meine Tasche. Dann gab ich Orson das restliche Wasser und sah, wie die Verzweiflung langsam aus seinem Blick wich.
    »Brauchst du etwas zu essen?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf. »Ich muss mal pinkeln, Andy.«
    »Da kann ich dir nicht helfen.«
    »Was – du willst, dass ich hier in den Kofferraum pinkle?«
    »Es ist dein Wagen.«
    Ich öffnete die hintere Tür und fischte eine Spritze und eine Ampulle Ativan aus meiner Gürteltasche. Wieder fuhr ein Auto Richtung Lincoln an uns vorbei, und ich konnte es plötzlich kaum noch erwarten, wieder loszufahren.
    »Dreh dich um, Orson.« Ich stach ihn mit der Nadel.
    »Andy«, sagte er, als ich gerade den Kofferraum schließen wollte, »du machst das sehr gut.«
     
    Schon vor Stunden war die Wirkung des Kaffees und der Tabletten verpufft, also musste ich auf den ermüdend schnurgeraden Straßen im Westen Nebraskas gegen den Schlaf ankämpfen.
    Ich fuhr jetzt seit dreiundzwanzig Stunden und fünfunddreißig Minuten und befand mich in einem Schwebezustand zwischen schlafend und wach. Gelegentlich berührte meine Stirn das Lenkrad, dann fuhr ich wieder starr vor Schrecken hoch und genoss es, fünf Minuten lang hellwach zu sein. Danach wanderten meine Gedanken wieder weit weg und ich verlor erneut für den Bruchteil einer Sekunde das Bewusstsein und erschrak jedes Mal zu Tode.
    Fünfzig Meilen nordwestlich von Ogallala tauchte auf dem Highway 26 die Prärie vor mir auf. Ein pfirsichfarbener Sonnenaufgang zeigte sich am östlichen Horizont, und mit zunehmendem Licht breitete sich das Land immer weiter aus, weiter, als es möglich schien. Die Landschaft hatte sich über Nacht verändert, und da ich diese allmähliche topografische Veränderung nicht bemerkt hatte, wirkte diese plötzliche Offenbarung überwältigend. Für jemanden aus dem Osten der USA, der gen Westen fährt, ist diese Weite und dieser unendliche Himmel stets unfassbar, und ich stellte mir vor, welch symphonische Begleitung einem solch majestätischen Morgen gebühre.
    Um halb sieben überquerte ich den von Bäumen gesäumten North Platte River und fuhr nach Bridgeport hinein. Weit hinten im Süden konnte ich die Spitzen zahlreicher Sandsteinkegel sehen, die im Sonnenlicht korallrote Streifen bekamen. Obwohl sie noch viele Meilen entfernt waren, wirkte es, als müsste ich nur meine Hand ausstrecken, um sie zu berühren.
    Der Highway 26 ging mitten durch die schlafende Stadt. Im Westen befand sich am Stadtrand ein Motel mit dem Namen Courthouse View, benannt nach dem berühmten Sandsteinkegel fünf Meilen weiter südlich. Dort nahm ich mir ein Zimmer. Da ich Orson genug Ativan für den Großteil des Tages gespritzt hatte, ließ ich ihn im Kofferraum, ging auf mein Zimmer und fiel wie tot auf das Bett.
    In vierzehn Stunden würde ich Luther treffen.
     
    Als ich am späten Nachmittag im Courthouse View ausgecheckt hatte und auf dem Highway 92 Richtung Nordwesten nach Scottsbluff fuhr, grübelte ich darüber nach, auf was ich mich da mit Luther eingelassen hatte. Um ehrlich zu sein, hatte ich eine große Dummheit begangen. Es war bereits sieben Minuten nach fünf,

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