Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
Vom Netzwerk:
die Scheiben vibrieren. Ich starrte in die halb leere Weinflasche zwischen meinen Beinen. Meine Finger umfassten den kalten Flaschenhals. Ich führte den Cabernet an meine Lippen und ließ ihn die Kehle hinunterrinnen.
    »Das stimmt nicht«, sagte ich. »Ich kann dir in die Augen sehen und…«
    »Und wenn ich dir in die Augen schaue, sehe ich, dass du weißt, dass es passiert ist.«
    »Du lügst.«
    »Warum verspürst du dann dieses seltsame Gefühl in dir? Als ob etwas, was du jahrelang nicht angerührt hast, gerade in deinen Eingeweiden zum Leben erwacht.«
    Ich trank einen weiteren großen Schluck und stellte die Flasche zwischen meinen Füßen ab.
    »Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte«, sagte er. »Mal sehen, ob…«
    »Nein. Ich gebe dir jetzt das hier, damit du schläfst. Ich sitz nicht hier rum und hör mir an…«
    »Hast du eine Brandnarbe von einer Zigarette am Penis?«
    Es fühlte sich an, als krabbelten mir tausend Ameisen über den Nacken.
    »Ich auch«, erklärte er.
    »Das ist niemals passiert. Ich erinnere mich jetzt. Es war eine Geschichte, die du dir ausgedacht hast, nachdem diese Kinder ihn gefunden hatten.«
    »Andy.« Ich wollte es nicht wissen, aber ich wusste es. Ich spürte, dass es immer da gewesen war, tief im Unterbewusstsein vergraben. Ich konnte immer mal wieder um die Ecke blicken und spüren, dass da etwas Schreckliches lauerte, ohne dass ich je hinuntergestiegen wäre, um es wirklich in Augenschein zu nehmen.
    »Es war eines späten Nachmittags während eines Gewitters«, fing er an. »Im Drainagetunnel unter der Autobahn. Das Wasser stand nur ein paar Zentimeter hoch, und insgesamt war der Tunnel so groß, dass ein erwachsener Mann ihn aufrecht durchqueren konnte. Wir haben dauernd dort gespielt.
    Nach dem Mittagessen hatten wir einen Streifzug durch den Wald unternommen und waren vom Gewitter überrascht worden. Um dem Sturm zu entfliehen, rannten wir den Bach entlang bis zum Tunneleingang. Dachten, besser wir stehen im fließenden Wasser und haben dafür Schutz vor den Blitzen.«
    Ich sehe dich in der feuchten Dunkelheit des Tunnels.
    »Ich hab dir gesagt«, fuhr er fort, »dass wir von Mama eine ganz schöne Tracht Prügel bekommen würden, weil wir trotz des Gewitters draußen geblieben waren.«
    Ich drehte mich von Orson weg und legte die Spritze auf den Boden. Die Nacht war nun endgültig über uns hereingebrochen, es war so dunkel im Auto, dass ich Orson neben mir nicht mehr erkennen konnte. Ich sah nur seine Worte, die bei dem Heulen des Windes kaum zu hören waren und mich in diese Unterführung zogen.
     
    Unser Lachen hallt von den Tunnelwänden wider. Orson bespritzt mich mit Wasser und ich spritze zurück auf seine dünnen, vorpubertären Beine. Wir stehen in der Tunnelöffnung, dort, wo der Ablauf einen halben Meter tiefer in ein brackiges, brusthohes Becken mündet, in dem wir jede Menge Schlangen vermuten.
    Sechzig Meter entfernt am anderen Tunnelende hören wir das Geräusch unbekümmerter Schritte im seichten Wasser. Orson und ich drehen uns um und sehen, dass die helle Öffnung von einem Schatten verdeckt ist, der sich auf uns zubewegt.
    »Wer ist das?«, fragt Orson flüsternd.
    »Keine Ahnung.«
    Trotz der Dunkelheit kann ich das winzig kleine Glimmen einer Zigarette ausmachen.
    »Komm«, bettelt er. »Lass uns gehen. Wir kriegen sonst Ärger.«
    Ein Donner lässt die Tunnelwände erzittern, ich mache einen großen Schritt über das dreckige Bachwasser und stelle mich neben meinen Bruder.
    Er sagt mir, dass er Angst hat. Ich habe auch Angst. Es fängt an zu hageln. Tischtennisballgroße Eisstücke klatschen auf den Waldboden und plumpsen schwer in das braungelbe Becken. Da wir mehr Angst vor dem Gewitter haben als vor den sich nähernden Schritten, warten wir besorgt ab. Der Tabakgeruch wird stärker, schon bald spüren wir die erste Rauchwolke.
    Der Mann, der aus dem Schatten auftaucht, ist dicklich und hat eine Glatze. Er ist älter als unser Vater, trägt einen grauen, ungepflegten Bart und hat Unterarme so dick wie Balken. Er trägt schmutzige Armeeklamotten und wiegt, obwohl kaum größer als wir, sicher an die fünfzig Kilo mehr. Er stellt sich torkelnd zwischen uns und mustert uns verächtlich von oben bis unten. Sein Blick hätte mich eigentlich ängstigen und verunsichern müssen, aber damals wusste ich über einige Dinge noch nicht Bescheid.
    »Ich habe euch den ganzen Nachmittag beobachtet«, sagt er. »Hatte noch nie Zwillinge.« Ich bin nicht

Weitere Kostenlose Bücher