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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Geliebte eine reale Person war und nicht eine der Überlebensstrategien, von denen Pater Roman gesprochen hatte. Ein Mann, den Ruth geliebt hatte und der doch nirgendwo in Erscheinung getreten war. In keiner Akte, nirgends hatte sie einen Hinweis darauf gefunden, dass Ruth neben dem getöteten Udo Reimers noch eine Beziehung mit einem anderen Mann gehabt hatte.
    Wer war dieser Geliebte ? Hatten sie sich wiedergetroffen? Nach so langer Zeit? Und weshalb hatte man von diesem Mann vorher nichts gehört, weshalb hatte er Ruth kein einziges Mal in Schloss Hoheneck besucht? Sie musste ihn ausfindig machen. Er war der Schlüssel. Er würde sie zu Ruth führen.
     
    Clara bestellte sich noch einen Kaffee und zog den letzten Brief aus dem Umschlag. Er war länger als die vorherigen Briefe, die mitunter nichts als ein paar hingekritzelte Zeilen, kaum mehr als Tagebuchnotizen gewesen waren, aber die Anrede war dieselbe: » Mein Geliebter …« Doch schon beim ersten Satz stutzte sie. Anders als die anderen begann dieser Brief mit einer sehr konkreten Aussage, und Clara spürte, wie ihre Erregung wuchs:
     
    Mein Geliebter,
    heute bin ich geflohen. Ich habe es nicht glauben wollen. Ich habe es nicht verstehen wollen: Es gibt mich nicht mehr… bald werde ich wie Maja sein, so wie sie heute Morgen von der Decke hing, eine leere Hülle mit Augen aus Glas. Und mit nackten Füßen, so nackt wie meine jetzt sind. Es ist für immer. Es gibt nichts mehr. Kein draußen. Es gibt nur noch ein Innen. Ein leeres Innen. Es gibt nichts mehr, womit ich es füllen könnte. Als ich Maja heute Morgen gesehen habe, bin ich weggegangen. Niemand hat mich aufgehalten. Sie waren zu sehr mit dem beschäftigt, was von Maja übrig geblieben war. Hinaus über das Krähenfeld bin ich gelaufen. Durch die leeren Ackerfurchen. Die Vögel haben mich dabei beobachtet, wie ich gerannt und gestolpert bin, mit meinen rosaroten Hausschuhen. Mit einem Auge, immer nur mit einem Auge haben sie mich fixiert. Sie sind schwarz, ohne Tiefe und ohne Schatten. Wie Tintenflecken auf dem Feld. Sie hüpften um mich herum, im sicheren Abstand, aber nie zu weit weg. Sogar ihr Krächzen ist schwarz. Schwarz wie Ruß, es bleibt an den Fingern kleben, dröhnt in meinen Ohren. Das Krächzen, immerzu. Es hängt über mir am bleischweren Himmel. Ihr Hohngelächter, ihr Spott, ihr Spaß daran, mir zuzusehen. Meine Füße bluten, die rote Farbe sickert durch die Schmutzkruste. Ich werfe die nutzlosen Hausschuhe nach den Krähen. Sie hüpfen, flattern, lachen sich tot.
    Die Polizisten unten am Ende des Krähenfeldes starren mich an. Sie starren auf meine Füße, und da wird mir klar, dass ich meine Hausschuhe nicht hätte wegwerfen dürfen. Sie glauben niemandem, der im November mit nackten Füßen herumläuft. Ich versuche es trotzdem. Beginne ihnen von Maja zu erzählen, von ihren erloschenen Augen und von der weißen Kammer. Versuche, meine Gedanken in Wörter einzuwickeln, die die beiden verstehen können. Ruhige, vernünftige Wörter. Ich wickle sorgfältig, ein Wort nach dem anderen. Es klingt gut. Sie starren mich an, und dann beginnt einer zu telefonieren. Immer wieder sehen sie auf meine Füße. Ich versuche, sie zu verstecken, stülpe die Jogginghose darüber. Die Zehen sind blutig, das ist kein schöner Anblick. Ich kann ihre Blicke verstehen. Warum nur habe ich die Hausschuhe nicht anbehalten? Dann würden sie mir jetzt zuhören, sie würden mich in ein Auto setzen und wegbringen, weg von hier. Weit weg. Sie würden sich alles genau aufschreiben und den Kopf schütteln und sagen: »Unglaublich, einfach unglaublich, was Ihnen widerfahren ist.« Und dann würde eines ihrer Autos mit Blaulicht und Sirene hinauffahren auf den Berg, und sie würden die Schneekönigin verhaften. Ich kann es sehen, in meinem Kopf, ganz genau, kann sehen, wie sie sie abführen, in Handschellen, und ihr Papierlächeln hängt herunter, es ist schlecht angeklebt, sie verliert es auf dem Weg zum Auto, und der Wind trägt es fort, hinauf zu den Krähen. Sie kreisen um den Fetzen Papier in der Luft, kreisen und krächzen und Maja und all die anderen mit ihnen … Sie bringen mich zurück. Am Eingang die Schneekönigin. Sie hält etwas in ihren Händen. Etwas Rosafarbenes. Meine Hausschuhe. Es gibt nichts mehr, mein Geliebter. Nur noch ein Innen. Und ich habe nichts mehr, womit ich es füllen könnte.
     
    Erschüttert ließ Clara den Brief sinken. Es war ein Abschiedsbrief. Ein Abschiedsbrief an die Welt

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