Brudermord
und die Brücke zu ihrer Rechten lag im vollen Sonnenlicht.
Clara zündete sich eine Zigarette an und inhalierte den Rauch tief in ihre Lungen. Sie fühlte sich merkwürdig: erregt und gleichzeitig vollkommen ruhig. Erwartungsvoll und ein wenig ängstlich und gleichzeitig voller Tatendrang, voller Energie. Nachdenklich drehte sie die Zigarette zwischen ihren Fingern. Noch nie war ihr ernsthaft der Gedanke gekommen, mit dem Rauchen aufzuhören. Weshalb eigentlich nicht? Alle Welt hörte damit auf, rauchen war nicht mehr gesellschaftsfähig, irgendwie abscheulich, gar peinlich, rücksichtslos, und wer es nicht aus eigener Kraft schaffte, bezahlte teure Kurse, um »in drei Stunden Nichtraucher« zu werden, warum also nicht sie? Fürchtete sie sich etwa nicht vor Lungenkrebs und all den sonstigen niederträchtigen Krankheiten, die das Rauchen angeblich zwangsläufig mit sich brachte? War es ihr nicht unangenehm, für die Verpestung der Luft und die Leiden der Passivraucher mitverantwortlich zu sein?
Langsam schüttelte Clara den Kopf, selbst verwundert darüber, wie eindeutig ihre Antwort ausfiel: Nein, sie fürchtete sich nicht, und es war ihr auch kein bisschen peinlich oder unangenehm, in diesen rauchlosen und so auf das Wohl der Allgemeinheit bedachten Zeiten eine unvernünftige, unverbesserliche Raucherin zu sein und es auch zu bleiben. Sie nahm noch einen Zug und schnippte dann die Kippe in den Kanal. Wahrscheinlich lag es daran, dass alle ihre Neurosen und Ängste anderswo gebunden waren, da blieb kein Raum und keine Energie, sich auch noch um so etwas zu kümmern.
Sie stand auf und streckte sich, dann pfiff sie nach Elise und machte sich auf den Weg zur Kanzlei.
Linda empfing sie ziemlich eingeschüchtert mit zusammengepressten Lippen. Willi sah hinter seinem Aktenberg auf und schien etwas sagen zu wollen, doch Clara ignorierte ihn. Mit hocherhobenem Kinn stolzierte sie grußlos an den beiden vorbei und verschanzte sich hinter ihrem Computer.
Arbeit vortäuschend, schaltete sie ihn ein und kontrollierte als Erstes ihre E-Mails. Es war eine von ihrem Sohn darunter, er hatte ihr Fotos geschickt von einem Ausflug an die Küste. Lächelnd betrachtete sie eines nach dem anderen. Auf dem letzten der Fotos stand Sean zusammen mit seinem Vater an einem einsamen Strand. Hinter ihnen brachen sich mächtige graue Wellen. Sean grinste glücklich, und seine Haare, genauso dunkel wie die seines Vaters, standen ihm windzerzaust in die Höhe.
Clara hatte seit Jahren nur noch den allernötigsten Kontakt mit Seans Vater und ihn schon lange nicht mehr gesehen. Sie war erstaunt, wie alt er geworden war. »Die Zeit ist nicht gerade gnädig mit dir umgegangen, Ian de Bearra«, murmelte sie gehässig und studierte gründlich die Geheimratsecken und den nicht zu übersehenden Bauch ihres Exmannes. Auch verwegene junge Iren wurden irgendwann einmal zu behäbigen, rotgesichtigen Männern mittleren Alters, denen man die wilden Jahre nur zu deutlich ansah. Unwillkürlich richtete Clara sich auf, streckte die Brust heraus und zog den Bauch ein. Würde Ian genauso urteilen, wenn er ein Foto von ihr sah?
Sie schloss die E-Mail und ließ ihren Bauch und die Rundungen darum herum wieder an ihre ursprünglichen Stellen rutschen. Das konnte ihr doch egal sein, was der dachte. So etwas von scheißegal. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es Zeit war. Jetzt würde die Galerie sicher schon geöffnet haben.
Gerade als sie nach ihrer Tasche griff, klingelte das Telefon. Unwillkürlich hob Clara ab, ohne auf Linda zu warten.
Es war Kommissar Gruber. Mit der gewöhnt mürrischen Stimme teilte er ihr mit, dass »die Sache erledigt sei.«
Clara richtete sich wie elektrisiert auf. »Haben Sie den Durchsuchungsbefehl für die Klinik tatsächlich bekommen?« Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Willi interessiert den Kopf hob, und drehte sich demonstrativ weg.
»Die Sache ist bereits über die Bühne gegangen«, wiederholte Gruber und klang dabei eher wie ein Drogendealer als ein Polizeibeamter.
»Sie haben die Durchsuchung bereits durchgeführt?«, fragte Clara trotzdem ungläubig. »So schnell? Was ist dabei rausgekommen? Warum haben Sie mir denn nicht Bescheid gesagt?«
Gruber antwortete nicht auf ihre Fragen. Er antwortete überhaupt nicht.
Nach einer Weile des Schweigens rief Clara: »Hallo? Sind Sie noch dran?«
»Also gut, wir könnten uns auf einen schnellen Kaffee treffen«, kam es zögernd von Gruber, und er tat dabei so, als würde er
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