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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Künstlers lautete Jakob Schelling. Clara wich alles Blut aus dem Gesicht, und ihre Finger wurden eiskalt. Jakob, flüsterte sie tonlos. Jakob und Ruth. Etwas Biblisches, hatte Lieselotte Winter gemeint, etwas, was gut zu Ruth passte. Nicht Jonas oder Jesaja, sondern Jakob. Sie hatte Pablo gefunden.
    Der Computer spuckte zu Jakob Schelling nur ein recht mageres Ergebnis aus. Ein veralteter Hinweis auf die Galerie, deren Prospekt sie in den Händen hielt, und das Foto einer abstrakten Plastik in einer Bank in einem Vorort von München, die von Jakob Schelling vor einigen Jahren gestaltet worden war. Keine aktuellen Ausstellungen, keine Hinweise auf den Künstler, seinen Lebenslauf oder gar eine aktuelle Adresse. Auch im Telefonbuch fand sie nichts, was ihr weitergeholfen hätte.
    Anstatt alle Schellings dieser Stadt anzurufen und damit womöglich Ruth und Pablo aufzuschrecken, beschloss sie, am nächsten Morgen zu der Galerie zu gehen und dort nachzufragen. Das bedeutete jedoch, dass sie im Augenblick mit dieser aufsehenerregenden Entdeckung nichts weiter anfangen konnte.
    An Schlaf war nicht zu denken. Clara wanderte ruhelos zwischen ihrer Küche und dem Wohnzimmer hin und her, begleitet von Elises erstaunten Blicken.
    Konnte sich diese Frau nicht einmal zur Ruhe begeben, schienen ihre Augen zu sagen. Musste sie immerzu herumlaufen?
    Clara rauchte ein paar Zigaretten und trank ein Glas Whiskey, mehr um die Zeit totzuschlagen, als ihn wirklich zu genießen. Sie schaltete den Fernseher ein und gleich wieder aus und stand eine geschlagene halbe Stunde am offenen Fenster und starrte in die dunkle Nacht hinaus.
    »Jakob Schelling«, flüsterte sie. »Wo hast du dich versteckt? Wo warst du all die Jahre?« Sie wusste, sie würde ihn finden. Morgen. Und wenn sie ihn hatte, würde sie auch Ruth gefunden haben und eine Menge Antworten mehr als jetzt.
     

CADAQUÉS
    Der Mann fror. Er hielt seine leere Teetasse umklammert, als könnte er sich daran wärmen. Doch es half nichts. Die Kälte kam von innen, sie drang aus seinem Inneren heraus, aus verborgenen Winkeln, und kroch in seine Glieder. Es war diese Kälte gewesen, die er jahrelang betäubt hatte, mit Schnaps und Bier und allem anderen, was dazu geeignet war. Doch jetzt gelang es nicht mehr. Er hatte es zugelassen, dass diese fremde Frau mit ihren Briefen einen Fuß in die Tür stellte, im letzten Augenblick, bevor er sie endgültig geschlossen hätte. Und jetzt ging es nicht mehr. Die Agonie der letzten Wochen löste sich auf. Doch hinter dem Nebel erschien kein Licht.
    Mit einer bestürzenden Klarheit, die seine Hände wieder zittern ließ, erkannte der Mann plötzlich, dass er sich der Wahrheit stellen musste, die er so lange versucht hatte zu ignorieren: Er hatte sein Leben vergeudet. War immer nur davongelaufen. Die Hälfte der Zeit, die er existierte, hatte er nicht gelebt. Und was blieb? Nichts. Nichts, wofür es sich weiterzuleben lohnte. Er hatte sein Geld und sein Talent versoffen, seine Gesundheit zerstört, und seine Freunde waren ihm im Laufe der Jahre einer nach dem anderen abhanden gekommen, ohne dass er es auch nur bemerkt hätte. Jetzt war nichts mehr übrig, er stand völlig nackt und schutzlos da, und zum ersten Mal in seinem Leben konnte er sich nicht mehr vor sich selbst verstecken. Ihm kam es so vor, als stünde er auf einer Klippe, ganz allein im eisigen Wind, und vor ihm der Abgrund.

MÜNCHEN
    Als Clara am nächsten Morgen nach einem kurzen, unruhigen Schlaf erwachte, war sie augenblicklich hellwach. Sie sprang aus dem Bett, duschte schnell und trank eine Tasse Kaffee im Stehen. Dann lief sie mit Elise zur Isar hinunter. Es war noch kalt, doch es würde entgegen der Prognosen der letzten Tage ein schöner Herbsttag werden. Das vom vielen Regen der letzten Tage matte, niedergedrückte Gras hatte seine grüne Frische längst verloren und war von einer dichten Schicht nasser Blätter bedeckt. Die Sonne warf ihre blassen Strahlen durch die kahlen Bäume, und die Feuchtigkeit stieg wie Rauch empor. Clara stapfte über die weite leere Wiesenfläche, und ihre Lederstiefel und die Hosenbeine waren innerhalb weniger Minuten nass. Elise lief im Zickzack vor ihr her, die große Nase dicht am Boden. Nach einer guten halben Stunde machte Clara kehrt. Die Sonne war höher gestiegen und wärmte bereits ein wenig. Sie setzte sich an den Kanal und betrachtete das stille grüne Wasser. Von der Straße gegenüber drang schon der morgendliche Berufsverkehr herüber,

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