Brudermord
leid. Entschuldige bitte.«
Clara seufzte. Warum liefen die Treffen mit ihrer Mutter immer nach dem gleichen Muster ab? Warum endeten sie immer damit, dass sie entweder wütend wurde oder ein schlechtes Gewissen bekam? Sie steckte die Geldbörse wieder ein.
»Lass uns noch einen Nachtisch essen, ich nehme die nächste S-Bahn«, schlug sie schließlich versöhnlich vor.
Ihre Mutter nickte, erleichtert, wie Clara fand. Sie bestellten beide Pannacotta und Espresso.
»Hast du schon gehört, dass sich bei uns ein neuer Künstlerverein gegründet hat?«, fragte Thea Niklas, bemüht, ein unverfängliches Thema zu finden. »Wir, also der Kirchenvorstand und der Pfarrer, haben beschlossen, ihnen die Kirche zur Verfügung zu stellen, dort wird es bald eine erste Ausstellung geben.« Sie kramte in ihrer Tasche. »Wir haben schon einen Flyer gedruckt, vielleicht hast du ja Lust zu kommen?« Sie reichte ihr einen zusammengefalteten Prospekt.
Clara las ihn mit mäßigem Interesse. Sie kannte das Hobby ihrer Mutter, örtliche Künstler zu fördern. Leider verkamen diese Veranstaltungen nur zu oft zu Laufstegen eitler Selbstdarsteller, deren Kunst sich darauf beschränkte, sich wichtig zu machen. Dies lag weniger an ihrer Mutter und deren Mitstreitern, sondern an dem Umstand, dass es eben mehr Wichtigtuer gab als kreative Köpfe, und Erstere in der Regel über mehr Durchsetzungskraft verfügten. Die Aufmachung des Flyers ließ vermuten, dass es dieses Mal nicht anders sein würde: Die aufgeblasenen Lebensläufe der einzelnen Mitglieder nahmen mehr Raum ein als die Abbildung ihrer eher bescheidenen Werke.
»Den Prospekt hat Erwin Lechkötter gemacht«, kam es entschuldigend von ihrer Mutter, die ihren kritischen Blick bemerkt hatte. »Der macht sich ganz gern ein bisschen wichtig.« Und tatsächlich prangte das Foto des pensionierten Kunsterziehungslehrers ganz vorne.
Clara lächelte. »Ich werde trotzdem kommen«, versprach sie. »Kennst du eigentlich Lio Winter? Sie ist auch Malerin.«
Ihre Mutter runzelte die Stirn und überlegte »Ist das nicht die mit den Katzen?«, fragte sie nachdenklich. »Ich glaube, die hatte einmal eine Ausstellung hier im Seeschlösschen …«
Doch Clara antwortete nicht. Sie hörte ihre Mutter gar nicht mehr. Stattdessen starrte sie wie gebannt auf den Flyer in ihren Händen. Die Abbildungen verschwammen vor ihren Augen und machten etwas anderem Platz, einem anderen Prospekt, den sie vor wenigen Tagen in den Händen gehalten hatte, ohne zu ahnen, welche Bedeutung er hatte. Und wieder kam ihr Lio Winter in den Sinn, zum zweiten Mal an diesem Tag, zum zweiten Mal der Satz: »Er war Bildhauer«. Und wie selbstverständlich rückte ein weiteres Puzzleteil an die richtige Stelle.
Clara ließ den Flyer sinken. Wie hatte sie nur so blind sein können? Sie stürzte den Espresso in einem Schluck hinunter und schob die Pannacotta beiseite. Der Appetit auf Nachtisch war ihr vergangen. Ein hastiger Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie die S-Bahn noch erwischen konnte. Plötzlich hatte sie es sehr eilig. Sie sprang auf und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange.
»Tut mir leid, ich muss doch gleich los, mir ist etwas Wichtiges eingefallen …«
Ihre Mutter musterte sie erstaunt. »Aber deine Pannacotta …«
Doch Clara war schon aus der Tür, den Mantel noch nicht richtig angezogen, rannte sie zum Bahnhof, um die S-Bahn noch zu erreichen, die völlig überrumpelte Elise im Schweinsgalopp neben sich.
Zurück in München nahm sich Clara ein Taxi zur Kanzlei. Der große Umschlag mit Ruths Briefen lag noch auf dem leeren Schreibtisch. Sie öffnete ihn, zog die Briefe heraus und suchte nach dem schmalen Büchlein, das sich ebenfalls in dem Geheimfach in Ruths Koffer befunden hatte. Sie schlug es auf und schüttelte die Seiten. Der abgegriffene alte Prospekt, den sie das letzte Mal ratlos wieder zurückgesteckt hatte, fiel ihr entgegen. Mit zitternden Fingern faltete sie ihn auseinander: Sie las die Worte, mit denen die Ausstellung angekündigt wurde, und ihr Mund wurde trocken. Ihr Blick flog hastig über die abgebildeten Werke. An dem Foto einer kleinen Bronzeplastik blieb sie hängen. Sie stellte eine sitzende Frau dar. Sie hatte die Arme um die Beine geschlungen und das Kinn auf die Knie gestützt. Langes Haar floss ihr in Wellen den nackten Rücken hinunter. Doch es war nicht so sehr die Abbildung, die Clara hatte stocken lassen, sondern der Titel des Werkes: »Ruth« stand dort, und der Name des
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