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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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wenn es so weiterlief wie bisher, würde Ruth Imhofen nach wenigen Wochen in Freiheit womöglich ganz schnell wieder hinter verschlossenen Türen verschwinden, sei es in einem Gefängnis oder wieder in einer Klinik. Und es würde Gras über die Sache wachsen, und irgendwann würde niemand mehr über den Fall Imhofen sprechen. Man würde Ruth Imhofen vergessen, und das ganze Ausmaß der Geschichte würde nie ans Licht kommen.
     
    Clara presste die Lippen aufeinander. So weit durfte es nicht kommen. Man konnte die Dinge nicht getrennt voneinander betrachten: Hier ein Verdächtiger, dort eine Verdächtige, zwei Verfahren, verschiedene Zuständigkeiten, spärliche Ergebnisse. Sie wusste, Gruber war ihr entgegengekommen, indem er den Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen hergestellt und sich der Durchsuchung persönlich angenommen hatte. Aber mehr würde er nicht für sie tun können. Er musste einen Mordfall aufklären, und seine Tatverdächtige befand sich auf der Flucht. Das hatte eindeutig Vorrang vor Selmany und der Klinik. Und wenn sie Ruth erst einmal gefasst hatten und sich bis dahin kein Hinweis auf einen anderen Verdächtigen ergab …
    War sie heute Morgen noch unschlüssig gewesen, wusste Clara jetzt mit Sicherheit, dass sie Gruber Ruths mögliches Versteck auf keinen Fall verraten würde. Versprechen hin oder her. Nicht, bevor sie nicht selbst herausgefunden hatte, was tatsächlich passiert war. Sie trank ihren Kaffee aus und kramte nach ihrem Geldbeutel.
    Gruber winkte ab. »Schon erledigt.«
    Clara lächelte matt und fühlte sich mit einem Mal erschöpft. Die gespannte Erwartung des Vormittags war einer lähmenden Müdigkeit gewichen. Sie schob ihren Geldbeutel wieder zurück in die Tasche. »Danke. Für alles.«
    »Da gibt’s nix zu danken«, brummte er. »Das ist meine Arbeit, nichts weiter.«
    »Trotzdem.« Sie bückte sich, um die Leine an Elises Halsband zu befestigen.
    »Und was werden Sie jetzt unternehmen?«, fragte Gruber, und die Art, wie er es sagte, betont nebensächlich, als wolle er nur höflichkeitshalber wissen, wo sie ihren nächsten Urlaub verbringen würde, ließ Clara aufhorchen.
    Sie richtete sich auf. »Keine Ahnung. Ich habe das Gefühl, wohin ich mich auch drehe, jeder Weg endet an einer Mauer.« Das zumindest war nicht gelogen. Sie hob die Schultern: »Vielleicht sollte ich die Sache einfach eine Weile beiseiteschieben und mich um andere Dinge kümmern.«
    Gruber sah sie aufmerksam an und nickte dann bedächtig: »Vielleicht sollten Sie das tun.«
    Clara fühlte sich unbehaglich, Grubers kleine scharfe Augen fixierten sie, als könnte sein bloßer Blick alles enthüllen, was sie vor ihm verborgen hielt. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, und es gelang ihr, wenngleich mit Mühe, seinem Blick standzuhalten, ohne zu erröten. »Ich melde mich bei Ihnen, wenn mir noch etwas einfällt«, sagte sie schließlich ein wenig lahm.
    »Tun Sie das«, nickte Gruber. »Tun Sie das.«
     
    Clara hatte es plötzlich eilig wegzukommen. Sie fühlte sich durchschaut, obwohl der Kommissar natürlich nichts von Pablo wissen konnte. Er hatte nicht mit Lio Winter gesprochen, er wusste nichts von Jakob Schelling, er wusste nicht, dass sie jetzt auf dem Weg zu ihm war und hoffte, dort Ruth zu finden. Das alles konnte er nicht wissen. Sie hastete die Straße entlang, bog dann in die Fußgängerzone ein und kam endlich, ziemlich außer Atem, am Odeonsplatz an. Dort verlangsamte sie ihren Schritt und stieg die Treppe zur Feldherrenhalle hinauf, um sich vor dem, was vor ihr lag, noch ein wenig zu sammeln. Sie setzte sich auf die oberste Stufe und rauchte eine Zigarette, einen Arm um Elise geschlungen, die neben ihr saß und sie fast um Haupteslänge überragte. Die Dogge leckte höflich an Claras Ohr und legte sich dann umständlich neben sie auf die Treppenstufe, ihren Kopf auf Claras Oberschenkel gebettet.
    Die Ludwigstraße lag vor ihnen in ihrer ganzen weißen Pracht. Vor dem Café am Hofgarten drängten sich die Menschen an den voll besetzten Tischen wie im Hochsommer. Jeder, der Zeit hatte, versuchte, so viel wie möglich von diesen letzten warmen Oktobertagen in den November mitzunehmen, die Sonnenstrahlen aufzusaugen und zu speichern für die düsteren, windigen Nebeltage und den langen Winter, der vor ihnen lag.
    Clara rauchte die Zigarette zu Ende und dachte darüber nach, wie sehr sie diese Stadt liebte. Nach dem Abitur war sie ruhelos in der Weltgeschichte herumgestreunt, unfähig,

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