Brudermord
mit sich. »Die heutige Unterredung ist von Ihnen als bloße informelle Befragung bezeichnet worden. Sollten Sie ein Ermittlungsverfahren gegen meine Mandantin wegen des Mordes an Johannes Imhofen einleiten, haben Sie sicher die Güte, zunächst mich darüber zu informieren. Bis dahin, schönen Tag noch.« Sie verließ mit Ruth Imhofen im Schlepptau den Raum und ließ die Tür mit einem heftigen Knall hinter sich zufallen.
Ohne Pater Anselm zu beachten, der so tat, als würde er die Ankündigungen am schwarzen Brett neu ordnen und sie dabei neugierig musterte, stapfte Clara den Flur entlang. Ihr Gesicht brannte. Sie musste dringend an die frische Luft. Ruth folgte ihr stumm. Draußen angelangt, lehnte Clara sich heftig atmend gegen den glatten Putz der Mauer und kramte ihre Zigaretten aus der Tasche. Nach einem tiefen Zug, bei dem ihr leicht schwindelig wurde, spürte sie, wie die Erregung langsam verebbte. Selten hatte sie ein solcher Zorn gepackt wie gerade eben in diesem Raum, zusammengepfercht mit diesen beiden unsympathischen Polizeibeamten und dem unfähigen Pater Roman. Was war das nur für eine beschissene Sache, in die sie da geraten war? Jeder schien mehr zu wissen als sie selbst, und jeden Augenblick gab es eine neue, unangenehme Überraschung. Währenddessen tappte sie wie blind im Nebel umher und fühlte dabei eine Verantwortung auf sich lasten, der sie sich nicht gewachsen fühlte. Was sollte das alles? Warum war dieser Lerchenberg mit diesem Scheißfall ausgerechnet zu ihr gekommen? Was hatte der Pater zu verbergen, und was, um Himmels willen, sollte sie mit Ruth Imhofen anstellen? Sie nahm noch einen tiefen Zug. »Es ist zum Kotzen!«, sagte sie laut. Ihr Blick fiel auf die Frau, die reglos neben ihr stand und ihre Schuhspitzen betrachtete. »Tut mir leid«, sagte Clara und versuchte ein schwaches Lächeln. »Soll ich Sie auf Ihr Zimmer bringen?«
Ruth schüttelte den Kopf und erwiderte zu Claras Erstaunen ihr Lächeln. »Gift und Galle«, sagte sie.
Clara hob erstaunt die Augenbrauen. »Wie?«
Ruth lächelte noch immer scheu. Sie streckte ihren Kopf der schwachen Oktobersonne entgegen und sagte langsam: »Gruber. Der Name schmeckt nach Gift und Galle. Er hat wahrscheinlich ein Magengeschwür.«
Clara lachte. Dann warf sie einen Blick zur Glastür, hinter der blasse Schemen sichtbar wurden. »Die beiden werden gleich herauskommen. Haben Sie Lust auf einen Kaffee?«
Ruth nickte. Irgendetwas schien ihre Lebensgeister geweckt zu haben. Ihr Anfall oder was auch immer dieses unheimliche Flüstern von vorhin gewesen sein mochte, war vergessen. Ihre blasse Haut hatte sogar einen Hauch von Farbe angenommen, und ihre Augen leuchteten ähnlich wie beim Anblick der Malutensilien, die Clara ihr mitgebracht hatte. Während sie in das kleine Café gingen, in dem Clara gestern schon mit Pater Roman gesessen hatte, wurde ihr plötzlich klar, wie einsam Ruth Imhofen sein musste. Offenbar hatte sie außer ihrem Bruder keine näheren Verwandten gehabt, ihre Eltern waren tot und jetzt auch ihr Bruder. Sie war nie verheiratet gewesen, hatte keine Kinder und Freunde nach so langer Zeit in der Klinik sicher auch keine mehr. Sie war vollkommen allein.
Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster. Clara zündete sich eine weitere Zigarette an und fragte: »Stört es Sie, wenn ich rauche?«
Ruth schüttelte den Kopf. »Ich habe auch geraucht. Früher. »Ihre Hand strich zärtlich über die Blätter eines buschigen Efeus, der auf dem Fensterbrett stand.
Clara bestellte einen Cappuccino für sich und eine Tasse schwarzen Kaffee für Ruth. Nachdenklich musterte sie die Frau, während diese mit den ihr eigenen, bedächtigen Bewegungen Zucker in ihren Kaffee rührte und dann trank.
»Was haben Sie so gemacht, seit Sie hier im Haus Maximilian sind?«, fragte Clara. Ruth stellte die Tasse ab und zuckte mit den Schultern. »Spazieren gegangen.« Sie machte eine unbestimmte Bewegung mit dem Kopf. »Alles hat sich verändert. Ich versuche, Dinge zu finden, die ich wiedererkenne.«
»Wo waren Sie denn schon überall?«, wollte Clara wissen und dachte dabei an die Villa in Grünwald. Doch Ruth warf ihr einen misstrauischen Blick zu und antwortete nicht. Clara biss sich auf die Lippen. Sie musste vorsichtig sein. Ruth war ein paar Zentimeter aus ihrem Schneckenhaus gekrochen, aber sie war auf der Hut und würde sich bei der geringsten Verunsicherung wieder zurückziehen.
Schweigend tranken sie ihren Kaffee. Dann sagte Clara
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