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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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im leichten Plauderton, bemüht, kein neues Misstrauen zu entfachen. »Sie haben sich wohl nicht besonders mit Ihrem Bruder verstanden?«
    Ruth starrte in ihre Tasse. »Früher schon. Dachte ich zumindest. « Dann hob sie den Kopf und sah Clara ins Gesicht. Ihre Augen waren unergründlich. »Ich war es nicht«, sagte sie leise, und der kleine Satz schwebte unwidersprochen im Raum, abwartend, die Worte wie schillernde Seifenblasen, die bei der geringsten Berührung zerplatzen würden. Clara erwiderte ihren Blick. Sie wollte ihr glauben. Sie musste ihr glauben. Doch dann tauchte ein Bild vor ihren Augen auf, das Bild einer Frau im grauen Jogginganzug und weißen Turnschuhen. Sie ging langsam an einem Zaun entlang, ein großer, leerer Garten, hohe Bäume, mitten darin eine schmucke weiße Villa. Es war der Tag des Mordes an Johannes Imhofen. Die Frau blieb stehen, beobachtete, wartete. Worauf? Clara schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben. Und dann, gegen die Stimme ihrer Vernunft, die in ihrem Kopf hämmerte und sie vergeblich aufzuhalten versuchte, sagte sie es: »Ich glaube Ihnen.«
    Die Seifenblasen blieben ganz. Schillernd und glänzend, trügerisch stabil schwebten sie durch den Raum und zum Fenster hinaus in den kühlen, nebligen Oktobernachmittag. Auf Ruths Gesicht zeigte sich so etwas wie Erleichterung, und Clara fühlte sich plötzlich elend, ohne dass sie sagen konnte, weshalb.
     
    Als sie zurückgingen, war es empfindlich kalt geworden, und Ruth schlang fröstelnd die Arme um ihren mageren Körper. Clara bemerkte erst jetzt, wie dünn sie tatsächlich war. Das weite, unförmige Sweatshirt und die ausgeleierte Hose hatten dies bislang verborgen. Clara war nicht dick, wenngleich sie sich manchmal an bestimmten Stellen ihres Körpers etwas weniger ausgeprägte Rundungen gewünscht hätte, doch im Großen und Ganzen war sie mit sich zufrieden. Obwohl Ruth nur unwesentlich kleiner als sie war, wog sie gut 30 Pfund weniger, schätzte Clara. Sie wirkte wie ein kleines, mageres Kind, wie sie mit hochgezogenen Schultern neben Clara herging. Ein Kind mit einem alten Gesicht.
    Haus Maximilian war wie ausgestorben. Clara fragte nicht nach Pater Roman, als ihnen von dem jungen Mann von vorhin die Tür geöffnet wurde. Sie hatte keine Lust, mit ihm zu sprechen. Für heute hatte sie genug von all den Lügen und Ausweichmanövern. Sie begleitete Ruth auf ihr Zimmer. An der Tür blieb sie stehen. »Frau Imhofen«, begann sie zögernd, unsicher, ob sie eine solche Frage überhaupt stellen durfte. »Wie kommt es, dass Sie heute Nachmittag im Café so verändert waren? Was hat Sie dazu bewegt …«, sie stockte, wurde verlegen, fuhr dann aber fort, »… mir zu vertrauen?«
    Ruth war mitten im Zimmer stehen geblieben. Sie antwortete, ohne zu zögern: »Wegen Ihrer Stimme.« Und als sie Claras verständnislose Miene sah, hob sie die Hände und begann, langsam etwas in die Luft zu zeichnen. Weiche fließende Bewegungen, wie Wellen. »Als Sie gestern und heute Vormittag zu mir kamen und mit mir redeten, hatten Sie eine Stimme in der Farbe von Wasser, durchscheinend, wie Tropfen, die sich zu einem Rinnsal sammeln. Ich dachte, jemand mit so einer Stimme kann mir nicht helfen.« Sie warf Clara einen vorsichtigen Blick zu, als fürchte sie, ausgelacht zu werden.
    Doch Clara lachte nicht. Sie dachte an ihre Unsicherheit, ihre Ahnungslosigkeit und ihre Versuche, sich in diesem Fall zurechtzufinden. Sie schluckte. Es war ihr ein wenig unheimlich, wie treffend Ruth dies beschrieben hatte. »Und dann?«, fragte sie zögernd, und ihre Stimme klang plötzlich fremd in ihren Ohren, ein wenig heiser, als ob sie sie zum ersten Mal hörte. »Was hat sich geändert?«
    »Als Sie mit dem Polizisten geredet haben, heute Nachmittag, bekam Ihre Stimme eine ganz andere Farbe«, sagte Ruth.
    »Ach, ja?« Clara räusperte sich.
    »Haben Sie schon einmal in einen Ofen gesehen, in dem eine ganze Menge Holz mit wenig Luftzufuhr verbrennt?«, fragte Ruth und wartete Claras Antwort nicht ab. »Es brennt nicht hell, sondern es glüht von innen heraus, das Holz sieht aus, als ob es lebendig wäre. So hat Ihre Stimme ausgesehen.«
    »Wie glühendes Holz?«
    »Ja.«
    Clara sah die Frau an. War sie verrückt? Gerissen? Oder gar beides? Sie war seltsam berührt von Ruths Worten, wollte es aber nicht zugeben. Sie hatte Angst. Irgendetwas an dieser Sache machte ihr Angst, und das Beunruhigendste daran war, dass sie nicht herausfinden konnte, was es

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