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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Isar hinüber zur Au führte, wo Clara nun schon seit fast sieben Jahren wohnte, sprang die große Dogge mit Angst einflößenden Riesenschritten vornweg, als habe es ofenwarme Schlafplätze nie gegeben.
    Ihre Wohnung empfing sie kalt und leer. Clara gab Elise zu fressen, dann holte sie sich ein Stück Käse und ein halb leeres Glas Oliven aus dem Kühlschrank und schnitt sich eine Scheibe Brot ab. Betrübt blickte sie auf ihr kümmerliches Abendbrot. Sie hatte wieder einmal vergessen, einkaufen zu gehen. Morgen, nahm sie sich vor. Morgen würde sie sich wieder einmal etwas Gutes gönnen, gesunde, leckere Dinge einkaufen, etwas kochen … Sie nahm den Teller, klemmte sich eine Flasche Mineralwasser unter den Arm und ging damit ins Wohnzimmer. Vorsichtig verteilte sie die Sachen auf ihrem Schreibtisch und ließ sich erschöpft auf den Stuhl plumpsen. Der Käse war an den Rändern aufgebogen und hart, und das Wasser schmeckte schal. Wieder kam ihr der Gedanke, der sie heute auf dem Weg zu Ruth bereits beunruhigt hatte: Was ist es, das die Menschen im Inneren zusammenhält? Was bringt uns dazu, morgens aufzustehen und all die Dinge zu tun, die man im Allgemeinen so tut? Nützlich zu sein, zu funktionieren. Und was kann man tun, wenn dieses Etwas plötzlich nicht mehr da ist?
    Nachdem ihr Sohn Sean vor einem guten halben Jahr zu seinem Vater nach Irland gezogen war, um dort zu studieren, hatten ihre hausfraulichen Fähigkeiten erheblich gelitten. Selten raffte sie sich auf, etwas zu kochen, selten war der Kühlschrank voll. Ein paarmal hatte sie sich vorgenommen, das zu ändern, hatte den Tisch in der Küche fein gedeckt, sich eine gute Flasche Wein geöffnet, einen Salat gemacht, ein Steak, Gemüse … Und als sie dann im Licht einer Kerze vor dem Essen gesessen hatte, um sich herum nichts als Stille, war ihr der Appetit vergangen. Sie hatte die Flasche Wein geleert und das Essen in den Kühlschrank gepackt. Am nächsten Tag gab es dann kaltes Steak und Brot vor dem Fernseher. Sie war noch nicht daran gewöhnt, allein zu sein. Jahrelang war Sean ihr Lebensinhalt gewesen. Auch wenn er immer seltener mit ihr zusammen den Abend verbracht hatte, war er doch immer da gewesen. Sie hatte eine bestimmte Sorte Cornflakes im Haus gehabt und die Sorte Brot, die er am liebsten mochte. Er hatte ihr von der Schule erzählt und manchmal, zögernd und mit mehreren Anläufen, von seinen Freundinnen, von denen, die ihn nach ein paar Wochen oder Monaten verlassen hatten und denen, bei denen es umgekehrt gewesen war. Er hatte sogar einmal den vergeblichen, aber trotzdem ziemlich vergnüglichen Versuch gemacht, Clara in die Geheimnisse seiner Computerspiele einzuweihen. Und oft hatte er seine Freunde mit nach Hause gebracht. Hoch aufgeschossene, linkische Kerle mit merkwürdigen Frisuren und ebenso merkwürdigen Hosen. Ab und zu war auch mal ein Mädchen dabei gewesen. Sie hatten die Küche belagert, Spaghetti gekocht und dabei einen unbeschreiblichen Saustall veranstaltet.
    Clara seufzte und biss in den Käse. Dann zog sie eine Akte aus ihrer Tasche und begann zu lesen.
     
    Zwei Stunden später hatte sie mehrere Schriftsätze diktiert und zwei Rechnungen geschrieben. Ruth kam ihr wieder in den Sinn. Wie sie wohl ihre Abende verbrachte? Sie hatte keinen Fernseher in ihrem Zimmer gesehen, kein Radio, keine Bücher. Sie zog Ruths Akte heraus und las noch einmal das Gutachten von 1983. Dann schaltete sie ihr Laptop ein und tippte den Begriff »Hebephrenie« in die Suchmaschine. Nach einigem Rumklicken fand sie den Begriff auf einer Infoseite über psychische Krankheiten. Aufmerksam las sie die dort angegebene Definition:
    Bei der hebephrenen Schizophrenie ist das Denken oft ungeordnet, die Sprache unbestimmt oder bizarr. Ausgeprägte Denkstörungen können dazu führen, dass der Patient alltägliche Aktivitäten wie Mahlzeitenzubereiten oder Sichankleiden nicht mehr verrichten kann. Das Verhalten ist einerseits resonanzlos flach, depressiv, ohne emotionale Wärme, dann wieder rastlos-enthemmt oder ungeniert-distanzlos, nicht selten auffallend durch läppisch-heiteres Benehmen, durch ein nicht nachfühlbares Lachen, Grimassieren oder durch Faxen, insgesamt also eine Inadäquatheit zwischen äußerer Situation und Reaktion.
    »Aha.« Clara zündete sich eine Zigarette an. »Läppisch-heiteres Benehmen«, las sie noch einmal laut. »Ungeniert-distanzlos und ohne emotionale Wärme.« Da wüsste ich eine ganze Reihe von »gesunden« Leuten, auf

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