Brudermord
Krawallschwester in besseren Tagen lautete die spöttische Bildüberschrift.
Danach war das Interesse an Ruth langsam wieder verebbt, war von anderen Geschichten verdrängt worden. Ruth hatte das gleichgültig hingenommen, so wie ihr auch der Rummel um ihre Person im Grunde gleichgültig gewesen war. Sie war immer auf der Suche nach etwas anderem gewesen, etwas, das ihr die Aufmerksamkeit der Medien nicht geben konnte. Er selbst hatte nie wirklich verstanden, was Ruth so ruhelos, so unstet sein ließ. Sie war wie ein flatterhafter kleiner Vogel, hielt es bei keinem Thema lange aus, konnte sich für vieles gleichzeitig begeistern, und eine Woche später erinnerte sie sich kaum noch daran. Sie malte wunderbare Bilder, die von innen heraus zu leuchten schienen, und versteckte sie hinter einer alten Plane in ihrer Werkstatt. »Ach das dumme Zeug«, gab sie achselzuckend zurück, wenn man sie danach fragte, und es konnte passieren, das sie einem eines der Bilder in die Hand drückte: »Nimm’s mit, wenn es dir gefällt.«
Und dann gab es seltene Momente, in denen sie still wurde, sich ihre Aufmerksamkeit ganz auf einen Punkt richten konnte. Auf einen Stein, den sie von der Straße aufgehoben hatte, auf die Wassertropfen am Fenster oder eine Kerbe in der Tischplatte. Irgendwann hing dann eine kleine Zeichnung irgendwo bei ihr an der rauen Werkstattwand oder steckte bei ihm in der Brieftasche, auf die sie den Stein, den Wassertropfen oder die Kerbe gezeichnet hatte, detailgetreu mit feinen, sicheren Bleistiftstrichen.
Der Mann stand endlich auf und steckte die Briefe zurück an ihren angestammten Platz. Damals hatte es angefangen. Mit dieser Aktion auf der Ausstellung, damit hatte das Verhängnis begonnen.
MÜNCHEN
In der Kanzlei wartete Willi auf sie. Er saß vor einer dicken roten Strafakte und hatte seine Brille auf die Stirn geschoben. Zwei ebenfalls dicke Bücher lagen aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch. Linda hatte schon Feierabend, und Elise lag, wie neuerdings üblich, vor dem Ofen.
Clara warf einen Blick auf die leuchtenden Flammen, die hinter dem Fenster loderten. »Willi«, fragte sie unsicher. »Welche Farbe hat meine Stimme?«
»Wie?« Willi hob den Kopf. »Was hast du gesagt?«
Clara lächelte verlegen. »Würdest du sagen, meine Stimme hat eine bestimmte Farbe? Rot vielleicht oder auch durchsichtig wie Wasser …« Sie sah ihn fragend an.
Willi starrte sie mit offenem Mund an. »Alles in Ordnung mit dir?«
Clara spürte, wie ihre Wangen heiß wurden, und hastig wandte sie sich ab. »Vergiss es einfach, ja?« Sie ging zum Schreibtisch und schob unschlüssig ein paar Akten hin und her, dann warf sie einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach halb sechs. »Ich gehe nach Hause«, murmelte sie, mehr zu sich selbst als an Willi gerichtet, und stopfte sich ein paar der dringenderen Akten in die Tasche.
»Habe ich was Falsches gesagt?«, wollte Willi wissen und setzte sich seine Brille auf die Nase. »Ich meine, deine Haare sind ziemlich, ähm, rötlich, also irgendwie so rotbraun und …«
Clara musste lachen. »Alles o.k., wirklich.« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Es war nur ein harter Tag.«
Es war noch ein paar Grad kälter geworden, als sie aus der mollig warmen Kanzlei wieder nach draußen trat. Der Nebel, der schon den ganzen Nachmittag über der Stadt gehangen hatte, hatte sich mit der aufkommenden Dunkelheit gesenkt und hüllte jetzt die Häuser wie eine feuchtkalte Decke ein. Clara knöpfte sich ihren Mantel zu und schlug den Kragen nach oben. Ein eisiger Wind fegte die Straße entlang und wirbelte welke Blätter und Staub vor sich her. Elise stand mit eingezogenem Schwanz neben ihr und sah wenig begeistert aus. Clara überlegte einen kurzen, sehr kurzen Augenblick, ob sie sich überwinden und zwei Stationen mit der U-Bahn fahren sollte. Doch um diese Uhrzeit waren die Züge voll. Allein der Gedanke, sich mit dem Kalb Elise in einen der vollbesetzten Wagen zu zwängen, ließ in ihr Übelkeit aufkommen. Keine Experimente mehr heute. »Hab dich nicht so, wir brauchen frische Luft«, sagte sie an ihren Hund gewandt und marschierte entschlossen los. Elise, die da ganz anderer Meinung war und sehnsüchtig an ihren warmen Platz in der Kanzlei zurückdachte, trottete missmutig hinterher.
Schon nach wenigen Minuten flotten Spaziergangs fühlte Clara sich besser, und langsam begann auch Elise widerwillig ihren Kopf zu heben. Noch bevor sie an der Brücke angelangt waren, die über die
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