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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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war.
     

CADAQUÉS
    Mein Geliebter, 
    es war ein Fehler, sie anzugreifen. Natürlich war es das. Du hättest es mir gesagt, nicht wahr? Aber ich hätte es auch selbst wissen können. Sie ist die neue Herrscherin im weißen Schloss. Die Schneekönigin. Mir wurde schlecht, als sie es mir heute sagten. Ich habe ihnen vor die Füße gekotzt. Auf ihre weißen Schuhe. Sie haben geflucht. Später ist sie selbst gekommen. Sie hatte mir ein sanftes Lächeln mitgebracht, eines von dieser Sorte, wie sie die Puppen in den Spielwarengeschäften haben. Ihre Stimme hat keine Farbe, ich kann ihre Stimme nicht sehen. Das macht mir Angst, ich kann sie nicht erkennen. Hallo, Schneekönigin, habe ich zu ihr gesagt, ich wollte nicht, dass sie meine Angst sieht. Aber ich glaube, ihre Wasserpfützenaugen können sowieso nur die Dinge sehen, die sie sehen wollen. Sie hat mir etwas von einer neuen Therapie erzählt, die sie in Amerika getestet hätten, bei Menschen mit ähnlichen Problemen wie ich sie habe. Habe ich Probleme?, habe ich gefragt und gelacht, ich bitte Sie, das sind doch keine Probleme … Sie hat nicht mitgelacht. Das Puppenlächeln auf ihrem Gesicht war festgeklebt. Sie hätte erst rausgehen müssen und ein anderes holen. Wahrscheinlich hat sie irgendwo in ihrem Zimmer eine Schachtel mit verschiedenen Gesichtsausdrücken, die sie bei Bedarf aufkleben kann auf ihr Eisgesicht. Ich habe sie nach der Schachtel gefragt. Sie hat nicht reagiert, natürlich nicht. Man darf hier alles tun, Leute angreifen, kotzen, schreien, sogar in die Hose pinkeln, aber ironisch sein oder witzig, das geht nicht. Sie verstehen das nicht.
     
    Der Mann lächelte traurig, als er die letzten Zeilen las. Er strich fast zärtlich über das Papier und stellte sich dabei vor, er streichle ihr Gesicht. Ihre hohen Wangenknochen, die sie so arrogant wirken ließen, den großen Mund, der unaufhörlich reden konnte. Er sah ihre dunklen Augen funkeln, spöttisch, voller Humor.
    Er erinnerte sich an eine Ausstellung die sie damals an der Kunstakademie mit organisiert hatten. Verrückte Dinge waren dabei gewesen, aber den Vogel hatte Ruth abgeschossen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hatte sich einen großen Käfig gebaut und an der Decke der Eingangshalle aufgehängt, wie einen dieser alten Kanarienvogelkäfige aus Holz. Dort hatte sie sich hineingesetzt, nur mit BH und Slip bekleidet, und jedes Mal, wenn ein Besucher hereinkam, wurde er mit einem schrillen Pfeifen aus einer Flöte und herabrieselndem Stroh begrüßt. Die Leute waren von der Frau im Vogelkäfig mehr irritiert gewesen, als er es sich damals hatte vorstellen können. Er hatte geglaubt, um zu schocken bräuchte es etwas Plakativeres, Ekelerregendes, Krieg, Blut, Gewalt, all das, was sich auch die üblichen Verdächtigen ausgedacht hatten. Doch Ruths »Vogelperspektive«, wie sie ihre Aktion schlicht nannte, wirkte viel verstörender, beunruhigender als alles andere. Die Leute versuchten, mit ihr zu sprechen, doch sie blies nur auf der Flöte. Ab und zu griff sie zwischen den Gitterstäben heraus und nahm einen Schokoriegel oder eine Banane entgegen, die ihr manche Besucher hinaufreichten, als wäre sie tatsächlich ein Tier im Zoo.
    Und dann die feierliche Eröffnungsrede, immer wieder unterbrochen von Ruths wenig melodiösem Flötenspiel. Der etwas hilflos wirkende Bürgermeister und daneben, im dunkelblauen Anzug, Ruths Bruder, frischgebackener Stadtrat, Ehrgeizling und Karrierist, wie er im Buche stand, mit zornrotem Gesicht. Am nächsten Tag war das Foto in allen Zeitungen zu sehen gewesen: Die Schwester des Stadtrats, halbnackt im Käfig, mit einer Banane in der Hand. Danach avancierte Ruth für eine Zeitlang zum Liebling der Feuilletons, gab Interviews, in denen sie mal Kluges, mal komplett Unsinniges von sich gab, und posierte Gitanes rauchend in ihrem »Atelier«, einer heruntergekommenen ehemaligen Autowerkstatt in Giesing. Dabei wurde jeder ihrer Sätze, jede ihrer Handlungen in Beziehung zu ihrem Bruder gesetzt. Genüsslich wurde ihr im Grunde eher halbherziges Engagement in der Friedensbewegung ausgewalzt und zum Gegenpol des politischen Engagements ihres Bruders, eines glühenden Strauß-Anhängers, hochstilisiert. Als sie anlässlich einer Demonstration vorübergehend festgenommen wurde, zierte am nächsten Tag ein Bild die Boulevardzeitungen, in der sie zusammen mit ihrem acht Jahre älteren Bruder als Kinder beim Baden in der Isar zu sehen war. Der schwarze Hannes und seine

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