Brudermord
versuchte es zwar immer wieder, wollte Distanz wahren, sich schützen, vernünftig sein, aber es gelang ihr so gut wie nie. Mick war ihr passiert, und sie wusste noch nicht recht damit umzugehen.
Jetzt hatte er sie bemerkt, und Clara wurde warm, als sie sein Lächeln sah. In einem Anfall von Schüchternheit wandte sie sich ab, um ihren Mantel an einen der vollkommen überfüllten Kleiderhaken neben der Tür zu hängen. Dann zwängte sie sich durch die Menschen hindurch an die Bar. Mick hatte ihr bereits ihren Whiskey eingeschenkt, in ihrem persönlichen Glas, das hier auf sie wartete, seit sie Stammgast des Pubs war, seit gut zehn Jahren. Damals hatte sie es eines Abends von zu Hause mitgebracht und Owen McMurphy, dem damaligen Pächter, in die Hand gedrückt. Mick war damals noch nicht da gewesen.
Ein einfaches, dickwandiges Glas, Überbleibsel aus ihrer Vergangenheit, aus ihrer Zeit in Irland. Als sie nach dem Whiskey griff, berührten sich ihre Hände, und Mick hielt sie für einen Augenblick fest. Sie sah auf und begegnete seinem Blick.
»Schön, dass du da bist«, sagte er.
Clara nickte glücklich. Dann hatte sich Mick schon wieder abgewandt, jemand wollte bezahlen und streckte ihm wedelnd einen Geldschein hin. Der Nächste drückte ihm sein leeres Bierglas in die Hand. Clara beobachtete ihn, seine lässigen Bewegungen, die immer so aussahen, als ob er sich mit allem Zeit ließe, nichts schien ihn aus der Ruhe zu bringen. Es machte ihr nichts aus, dass er keine Zeit hatte, mit ihr zu plaudern, es war so, wie er gesagt hatte, schön, einfach da zu sein.
Sie nippte an dem Whiskey, spürte, wie er warm und weich die Kehle hinunterrann und in ihr die vertrauten alten Bilder beschwörte. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und ließ den Blick über den langen Tresen schweifen, vollgestellt mit Gläsern und davor die vielen mehr oder weniger bekannten Gesichter. Einzelne, einsame Typen, die regelmäßig kamen und von denen sie die meisten vom Sehen kannte. Den Blick trübe auf ihr Bier gerichtet, hockten sie vor ihrem Glas wie Inseln in dem Tumult um sie herum. Dazwischen und dahinter Gruppen junger Leute, Studenten, breitschultrige Amerikaner, laut und ausgelassen wie kleine Jungs, und ihre Freundinnen, glatthaarig und stubsnasig, mit perfekten Zähnen und gezupften Augenbrauen.
Ein Mädchen fiel ihr auf, hübsch und dunkel, die trotz der Hitze eine überdimensionale weiße Pudelmütze trug, dazu ein kurzärmeliges, rotes T-Shirt mit der Aufschrift I’m crazy . Sie saß am Ende der Bar mit dem Rücken an die Wand gelehnt im Schneidersitz auf dem Tresen und hatte ihre Arme nachlässig um den Hals eines jungen, kahl geschorenen Mannes geschlungen, den Clara nur von hinten sehen konnte. Sie erinnerte Clara an die junge Ruth ihrer Vorstellung. »Crazy«, flüsterte sie leise in ihr Glas und trank es dann aus. Wie viel schöner klang dieses Wort als das deutsche verrückt oder gestört . Es klang nach Abenteuer, nach etwas Besonderem, Wildem. Aber vielleicht war das auch nur für ihre deutschen Ohren so. Sie stellte sich ein T-Shirt vor mit der Aufschrift: »Ich bin gestört«, und musste lächeln. Die Textzeile eines alten Songs von Leonard Cohen fiel ihr ein: » You know, she’s half crazy and that’s why you want to be there … « Und einem plötzlichen Einfall folgend stand sie auf und ging in das Nebenzimmer, wo auf der Bühne, einem kleinen erhöhten Podest, ein Klavier stand.
Probeweise spielte sie ein paar Takte, die kaum gegen den Lärm um sie herum andrangen. Niemand beachtete sie. Sie begann, aus dem Gedächtnis die Melodie zu spielen, und während ihre Finger bedächtig über die Tasten wanderten, fühlte sie, wie das Lied in ihrem Kopf langsam Gestalt annahm. Das Stimmengewirr um sie herum wurde leiser, und die Gesichter der Menschen unterhalb der kleinen Bühne verschmolzen zu einer Kulisse. Sie spielte weiter, begann leise zu singen. » Suzanne takes you down to her place near the river…«, ihre Stimme wurde lauter, als sie sich sicherer fühlte und ihr der Text wieder einfiel, »… and you want to travel with her, and you want to travel blind and you know that she will trust you, for you’ve touched her perfect body with your mind …«
Sie sah nicht, wie Mick hinter der Theke den Kopf hob und zu ihr hinübersah, als er ihre Stimme durch den Lärm hindurch hörte. Sie bemerkte nicht, wie er zu ihr herüberkam, dann aber stehenblieb und sie nachdenklich betrachtete, bevor er wieder
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