Brudermord
eingetreten worden war. Ruth habe beim Eintreffen der Polizei neben dem Toten gesessen und sei nicht ansprechbar gewesen. Untersuchungen ergaben einen Alkoholgehalt von 1,9 Promille im Blut, dazu Spuren von Kokain, Haschisch und Valium. Im Waschbecken des Badezimmers hatte man eine leere Medikamentenpackung gefunden. Außerdem hatte sich Ruth Imhofen im Badezimmer offenbar immer wieder erbrochen. Als die Polizei sie mitnahm, sagte sie mehrmals: »Ich habe ihn umgebracht!« Johannes Imhofen sagte aus, Ruth habe gegen vier Uhr morgens bei ihm angerufen und ihn gebeten, zu kommen, »es sei etwas passiert.« Er habe die Situation so vorgefunden und sofort die Polizei gerufen. Hier wurde am Rande angemerkt, dass Herr Imhofen deutlich erschüttert war und ärztlich betreut werden musste. Die Spurensicherung ergab unzählige Fingerabdrücke in der gesamten Wohnung, auf der Tatwaffe jedoch befanden sich ausschließlich die Abdrücke Ruth Imhofens. Aussagen der Zeugen bestätigten, dass die Skulptur auf der Kommode neben der Badezimmertür gestanden hatte.
Clara betrachtete das Foto in der Akte. Eine schlanke, abstrakte Frauengestalt aus weißem Stein, vermutlich Marmor, an der Unterseite blutverklebt. In der Vergrößerung waren Haare in dem dunkel geronnenen Blut zu erkennen. Das rechtsmedizinische Gutachten führte dazu aus, ein einziger, heftiger Schlag gegen die Schläfe habe zu Verletzungen im Schädelinneren geführt. Todesursache sei eine massive Hirnblutung gewesen.
Es war auch ein Foto des Opfers in der Akte. Ein junger Mann mit Vollbart und langen, ungepflegten Haaren. Ein Foto zeigte seine rechte Schläfe in Großaufnahme, offenbar nachdem die Wunde in der Rechtsmedizin gereinigt worden war: Man sah den tiefen Abdruck einer Kante in der aufgeplatzten Haut direkt neben dem Haaransatz. Die Verletzung am Opfer sei deckungsgleich mit der Tatwaffe, und die Fingerabdrücke auf der Tatwaffe passten genau zur notwendigen Griffhaltung.
Das Gericht ordnete noch am selben Tag die Unterbringung Ruth Imhofens in der forensischen Abteilung des zuständigen Bezirkskrankenhauses an, da »dringende Gründe für die Annahme sprächen, dass die Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen worden sei, und überdies die öffentliche Sicherheit eine sofortige Unterbringung erforderlich mache.« Als Begründung dieses Beschlusses führte es nicht nur den Zustand der Täterin zum Zeitpunkt der Tat und deren »offensichtliche Abhängigkeit von bewusstseinsverändernden Betäubungsmitteln und Medikamenten« an, sondern auch die Tatsache, dass ihr Bruder bereits vor einem Jahr darauf hingewirkt hatte, dass sich seine Schwester in psychiatrische Behandlung begeben solle, und beantragt hatte, dass ihm die Vormundschaft für sie übertragen werde. Der Antrag sei zwar damals abgelehnt worden, und Ruth Imhofen hatte sich einer Behandlung verweigert, die neuen Umstände bestätigten jedoch die Annahme, dass die Beschuldigte unter einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung leide und eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle.
Es folgte das Gutachten der Sachverständigen Dr. Thiele, das Clara schon kannte. Auf der Grundlage dieses Gutachtens kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass Ruth Imhofen »aufgrund einer dauerhaft vorliegenden krankhaften seelischen Störung sowie einer zum Zeitpunkt der Tat gegebenen Intoxikationspsychose, verursacht durch chronischen und akuten Missbrauch von Alkohol, illegalen Drogen sowie Medikamenten, unfähig war und ist, das Unrecht der Tat einzusehen und danach zu handeln …«
Das Gericht hatte daraufhin die dauerhafte Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt angeordnet und wegen festgestellter Schuldunfähigkeit keine Anklage gegen Ruth Imhofen erhoben. Insoweit hatte die Zeitung recht gehabt: Ruth Imhofen war nie wegen des Todes von Udo Reimers angeklagt und verurteilt worden. Sie war stattdessen nach Schloss Hoheneck gekommen.
Clara stützte ihren Kopf in beide Hände und dachte nach. Es klang ungerecht. Es klang so, wie es auch in der Zeitung gestanden hatte: Ein junger Mann wird erschlagen, und die Täterin muss dafür nicht einmal ins Gefängnis. Im Gegenteil, sie wird in einer teuren Privatklinik therapiert. Auf Kosten der Steuerzahler. Für den Toten gab es keine Therapie. Für ihn gab es gar nichts mehr. Sein Leben hatte mit dreiundzwanzig Jahren geendet. Aus. Vorbei.
Andererseits … wäre es zu einem Prozess gekommen, wie hätte die Anklage gelautet? Totschlag, höchstens,
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