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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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etwas, was sie sich vorgenommen hatte, niemals zu tun. Und sie würde sich an ihm festhalten wollen, hoffen, dass er sie tröstete, aufbaute, ablenkte. Eine kleine, verführerische Stimme meldete sich und fragte unschuldig: Warum nicht? Dafür sind Freunde schließlich da? Doch sie wollte nicht. Sie wollte nicht schwach sein, und sie brauchte keine Schulter, an der sie sich ausweinen konnte. Müde rief sie nach Elise, knipste die Lichter aus und schloss die Kanzlei ab.
     
    Es hatte aufgeklart, und die Luft war beißend kalt. Clara ging langsam Richtung Isar und wandte sich dann in Richtung Fraunhofer Straße. An einer Gastwirtschaft blieb sie stehen und spähte durch die Scheiben. Direkt am Fenster saß ein Mann mit aufgezwirbeltem Schnurrbart und ließ sich einen Schweinsbraten schmecken. Im gleichen Moment fiel ihr der leere Kühlschrank in ihrer Küche ein. Sie hatte wieder vergessen einzukaufen.
    Clara zögerte und warf einen unschlüssigen Blick auf Elise. Sie hatte heute, von dem morgendlichen Marsch zur Kanzlei einmal abgesehen, herzlich wenig Auslauf bekommen. Elise beantwortete ihren Blick mit treuherzigem Augenaufschlag und einem freundlichen Schnauben. »Wollen wir erst noch ein bisschen Gassi gehen, Schätzchen?«, fragte Clara versuchsweise, aber Elise reagierte nicht wirklich enthusiastisch: Sie setzte sich auf ihr Hinterteil und sah Clara unsicher an. Damit war die Sache entschieden. Clara kraulte ihren Hund lächelnd hinter den Ohren und öffnete die Tür zur Gastwirtschaft. Sie setzte sich an einen Tisch in der Ecke, und als die Bedienung kam, deutete sie auf den Mann am Fenster: »Ich hätte gerne das Gleiche wie der Herr, bitte.«
    Nachdem sie den ersten tiefen Schluck von dem dunklen Weißbier getrunken hatte, das die junge Frau ihr daraufhin brachte, fiel ihr der Mann an der Theke auf. Sein breiter Rücken war gebeugt, die Schultern hochgezogen, und er hatte beide Hände um ein Glas Helles geschlungen. Er wirkte einsam, wie er dort ganz allein an der leeren Bar saß und in sein Bier starrte. Clara erkannte ihn, noch bevor sie seinen kahlen Hinterkopf registrierte: Es war Pater Roman. Sie wollte schon aufstehen, doch dann hielt sie inne und blickte zögernd auf ihren Tisch, wo das Besteck schon auf den Schweinebraten wartete. Sollte sie nicht zuerst etwas essen und ihn erst dann ansprechen? Für ein Gespräch wie das, das sie mit dem Pater zu führen hatte, war ein leerer Magen nicht gerade dienlich.
    Die Entscheidung wurde ihr abgenommen: Die Bedienung kam und brachte ihre Bestellung. Clara atmete tief ein, als sie das große Stück saftigen Fleisches mit knuspriger Kruste und dunkler Soße betrachtete, und sie seufzte angesichts des Kartoffelknödels, der sich ohne Kraftanstrengung mit der Gabel auseinanderdrücken ließ und in duftende, gabelgerechte Happen zerfiel. Sie tunkte einen davon in die Soße und schob ihn sich mit geschlossenen Augen in den Mund. Manchmal gab es wichtigere Dinge als die Arbeit.
     
    Als sie eine halbe Stunde später ihren Teller geleert und noch die letzten Soßenreste mit einem extra dafür aufgesparten Stück Knödel sorgfältig aufgewischt hatte, saß Pater Roman noch immer an seinem Platz. Nur das Glas Bier vor ihm hatte sich zwischenzeitlich erneuert. Clara versuchte unauffällig, den Hosenbund ihrer neu erworbenen Jeans mit zwei Fingern ein wenig zu lockern, und überlegte flüchtig, ob sie sich nicht doch gegen die Knackigkeit und für eine Nummer größer hätte entscheiden sollen. Dann stand sie auf und ging zu Pater Roman an die Bar. Er fuhr zusammen, als Clara ihn ansprach.
    Sie deutete an ihren Tisch. »Hätten Sie nicht Lust, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten, Herr Dr. Tenzer ? Ich glaube, wir sollten uns einmal gründlich unterhalten.«
    Sie lächelte ihn freundlich an, doch Pater Roman ließ sich davon nicht täuschen. Er warf ihr einen vorsichtigen Blick zu, als erwarte er, jeden Augenblick gebissen zu werden, zuckte aber dann ergeben mit den Schultern, packte sein Bier und folgte Clara.
    »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie das Gutachten geschrieben haben, das zu Ruths Entlassung geführt hat?«, begann Clara ohne Umschweife, kaum dass sie sich gesetzt hatten. »Warum wollten Sie mir weismachen, dass Sie Ruth nicht kennen, dass Sie von der ganzen Sache keine Ahnung haben?«
    Sie spürte, wie die Gelassenheit, die mit Schweinebraten und Weißbier über sie gekommen war, rapide schwand.
    Pater Roman starrte auf seine Hände. »Ich hatte

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