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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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wahrscheinlich sogar ein minder schwerer Fall wegen möglicher vorausgegangener Aggressionen des Opfers, Clara dachte dabei an die eingetretene Badezimmertür, jeder Verteidiger hätte versucht, auf eine Notwehrsituation zu plädieren, dazu wäre verminderte Schuldfähigkeit gekommen, im Übrigen war auch das Opfer alkoholisiert gewesen … mehr als ein paar Jahre, wenn überhaupt, hätte Ruth Imhofen niemals absitzen müssen.
     
    Clara stand auf und öffnete das Fenster hinter ihrem Schreibtisch. Es hatte zu regnen aufgehört, doch die Wolken hingen noch immer tief über der Stadt. Es war kalt und ungemütlich.
    Was war gerecht?
    Clara konnte sich nichts vorstellen, was es rechtfertigen würde, jemanden wegen einer solchen Tat unter diesen Umständen für vierundzwanzig Jahre einzusperren. Weder in ein Gefängnis noch in eine Klinik. Sie verstand es nicht. Sicher gab es Fälle, in denen Menschen so schwer psychisch gestört waren, dass sie ihr Leben lang in psychiatrischer Betreuung bleiben mussten. Aber Ruth Imhofen? Das Wenige, das sie von ihr bisher erlebt hatte, ließ keine Schlüsse auf eine solche Erkrankung zu. Und überhaupt: Waren denn so schwere geistige Erkrankungen, die es notwendig machten, jemanden Jahrzehnte in einer Klinik zu belassen, überhaupt heilbar? Und warum jetzt, nach so langer Zeit? Und was für eine Schweinerei war es, die Ralph Lerchenberg aufgedeckt hatte? Stand sie damit in Zusammenhang?
    Clara schloss das Fenster und kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück. Sie packte die Strafakten weg und zog sich eine der grünen Klinikmappen heraus. R. Imhofen 1983 - 1986 stand auf dem Deckblatt. Sie blätterte darin, fand jedoch wenig Aussagekräftiges. Endlose Aufzeichnungen, in denen detailliert die Medikamente aufgelistet waren, die Ruth in dieser Zeit verabreicht worden waren. Clara staunte über die Menge und die vielen unterschiedlichen Bezeichnungen, die ihr allesamt nichts sagten. Dann folgten Berichte über Therapien, Gesprächsprotokolle und kaum entzifferbare handschriftliche Bemerkungen des jeweils behandelnden Arztes. An manchen Tagen des Jahres 1984 war am Rand der Protokolle mit einem roten Stift ein Kürzel vermerkt: CS 1 ZE oder CS 2 ZE. Clara blätterte neugierig weiter und fand heraus, dass sich diese Kürzel über einen Zeitraum von ca. acht Monaten erstreckten und sich die Zahlen kontinuierlich erhöhten. Beim letzten Mal gab es keine Zahl, sondern stattdessen die Buchstaben AB. Danach gab es keinen Vermerk CS mehr, auch nicht in den folgenden Jahren. Überhaupt nahmen die Berichte über die Patientin R. Imhofen nach diesem ersten Ordner der Jahre 83 - 86 auffällig ab, wie Clara beim raschen Durchblättern feststellte. Es war, als ob der anfängliche Enthusiasmus beim Versuch, die Patientin zu therapieren, mehr und mehr nachgelassen habe, ohne dass sich dafür eine Erklärung in den Akten fand. Clara las nichts über eine Verschlechterung oder auch eine Verbesserung ihres Zustandes. Ab und zu waren längere Berichte eingefügt, die alle gleich klangen und nichts aussagten, zumindest nichts, was Clara verstehen konnte. Hatte man erkannt, dass es keine Heilung gab? Doch das widersprach der Tatsache, dass Ruth am Ende entlassen worden war. Oder hatte man sich nicht mehr gekümmert, hatte sie einfach - vergessen?
    Clara schüttelte heftig den Kopf. So etwas war nicht möglich. Dafür gab es die Vormundschaftsgerichte, die den Zustand der Patienten, die in solchen Kliniken zwangsweise untergebracht waren, regelmäßig zu überprüfen hatten. Sie sprang auf und zog sich ihr Gesetzbuch aus dem Regal. Hastig blätterte sie in den dünnen Seiten nach der richtigen Vorschrift. Und sie hatte sich nicht getäuscht: Bei einer Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt hatte das Gericht spätestens nach vier Jahren einen externen, neutralen Sachverständigen zum Zustand des Patienten zu hören und zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine weitere Unterbringung noch gegeben waren.
    Sie nahm sich die Krankenakten nochmals vor.
    Als sie schließlich in mühseliger Kleinarbeit alle Ordner sorgfältig durchgeblättert und alle Gutachten gelesen hatte, war es bereits dämmrig geworden. Sie hatte den ganzen Nachmittag über diesen Unterlagen zugebracht. Jetzt spürte sie, wie ihr Magen vernehmlich knurrte. Doch sie beachtete ihn nicht. Sie glaubte herausgefunden zu haben, worauf auch Ralph Lerchenberg vor ihr gestoßen war. Sie hatte die Schweinerei, wie er sich ausgedrückt hatte, entdeckt,

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