Brudermord
und sie fand diese Bezeichnung noch zu milde für die Ungeheuerlichkeit, die hier passiert war:
Sämtliche für das Gericht bestimmten Begutachtungen im Laufe der Jahre waren entgegen den gesetzlichen Vorschriften von Ärzten der Klinik selbst durchgeführt worden, und zwar immer unter Oberaufsicht von Frau Dr.Thiele, die 1983 in dem Prozess das Gerichtsgutachten erstellt hatte und die Klinik Hoheneck damals leitete. Auch spätere Beurteilungen unter ihrem Nachfolger Dr. Selmany stützten sich auf dieses erste Gutachten von 1983. In ihrem Befürworten der Fortdauer der Unterbringung in Schloss Hoheneck bezogen sich die Ärzte teilweise wortwörtlich auf die Formulierungen von Frau Dr. Thiele, ohne auf neue Entwicklungen im Krankheitsverlauf einzugehen oder gar eigene Diagnosen oder abweichende Beurteilungen anzuführen.
Zu keinem Zeitpunkt hatte das Gericht dies bemängelt oder einen eigenen Sachverständigen beauftragt. Nach jedem Gutachten war der Empfehlung des Arztes Folge geleistet und die Unterbringungsanordnung entsprechend verlängert worden. Ohne Rückfrage und ohne persönliche Anhörung der Patientin durch das Gericht.
Clara wurde kalt, als sie die Tragweite dieser Entdeckung begriff: Ruth Imhofen war wegen eines einzigen Gutachtens vor vierundzwanzig Jahren bis vor wenigen Wochen in dieser Klinik eingesperrt gewesen und wäre es noch immer, wenn sich Ralph Lerchenberg nicht für sie eingesetzt hätte. Niemanden hatte es interessiert, niemand hatte es überprüft, niemand hatte wissen wollen, was mit dieser Frau passierte. Und Ralph Lerchenberg, der Einzige, den es gekümmert hatte, hatte sein Engagement mit dem Leben bezahlt.
Clara klappte hastig den letzten Ordner zu, der abrupt im Frühsommer dieses Jahres aufhörte, offenbar zu dem Zeitpunkt, an dem Ralph Lerchenberg Ruths behandelnder Arzt geworden war. Was hatte Lerchenbergs Frau gesagt? Am 4. Juli, dem Geburtstag seiner kleinen Tochter, war er zu spät nach Hause gekommen. Er hatte den Geburtstag seiner Tochter verpasst, und jetzt würde er keinen Geburtstag von ihr mehr erleben. Clara wurde übel. Sie schob den Ordner vom Tisch und barg ihr Gesicht in den Händen. Ihre Finger waren eiskalt, und ihre Wangen brannten, als ob sie Fieber hätte.
Es war still in der Kanzlei. Willi und Linda waren längst gegangen, und auf Claras Frage, ob Willi vielleicht Lust habe, sich mit ihr später auf ein Bier zu treffen, war er verlegen geworden und hatte schließlich etwas vor sich hin gemurmelt, was so klang, als wollten er und Linda noch ins Kino gehen. Linda hatte daneben gestanden und war puterrot geworden. An einem anderen Tag hätte sich Clara für die beiden gefreut. Linda bemühte sich seit ewigen Zeiten um Willi, und Clara hatte immer gehofft, dieser Idiot würde es endlich einmal bemerken. Vor ein paar Monaten hatte es einmal so ausgesehen, als hätte er sich endlich ein Herz gefasst: Er war mit Linda ins Murphy’s gegangen. Obwohl das Pub nicht gerade ein Ort war, an dem es sich besonders romantisch turteln ließ, hatten die beiden nur Augen für sich gehabt. Seitdem jedoch war Clara nichts aufgefallen, was auf einen Fortschritt dieser zarten Annährung hingedeutet hätte. Dass es nun ausgerechnet heute sein musste, versetzte ihr einen dünnen, aber schmerzhaften Stich, und ihr halbherziges, um Fröhlichkeit bemühtes »Viel Spaß!« klang bitter und schmeckte auch so.
Clara packte die Krankenmappen zurück in den Koffer. Sie sahen so unschuldig, so nichtssagend aus, dass Clara sie am liebsten in den Ofen geworfen hätte. Doch das ging natürlich nicht. Sie musste sie aufheben, und sie musste etwas unternehmen. Im Geiste formte sich bereits eine Schadensersatzklage, doch der Gedanke daran erleichterte sie nicht. Stattdessen stiegen Bilder eines jahrelangen Prozesses vor ihr auf, eine Phalanx von Anwälten in dunklen Anzügen und ebensolchen Gesichtern, meterweise Aktenordner, Beweisanträge, stundenlange Verhandlungen und dazwischen Ruth Imhofen, stumm, langsam, im Jogginganzug.
Die Übelkeit wurde stärker. Sie musste etwas essen. Ihr Blick fiel auf den grauen Ordner im Koffer, den sie sich noch nicht angesehen hatte, und sie nahm ihn heraus und schob ihn in ihre Tasche. Eine gute Lektüre für das Wochenende, das vor ihr lag. Einen Augenblick lang war sie versucht, Mick anzurufen, doch dann schüttelte sie den Kopf und holte sich ihren Mantel. Nicht jetzt. Nicht in dieser Verfassung. Sie würde mit ihm nur über den Fall reden wollen,
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