Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
Vom Netzwerk:
meine Gründe.«
    »Davon gehe ich aus«, gab Clara trocken zurück. »Wenn Sie so freundlich wären, Ihr Geheimnis mit mir zu teilen, könnten wir uns vielleicht gemeinsam überlegen, wie wir weiter vorgehen.« Sie zündete sich eine Zigarette an und rauchte ein paar Züge schweigend. Dann fügte sie wie beiläufig hinzu: »Ich habe übrigens alle Unterlagen gelesen, die Ralph Lerchenberg hatte. Seine Frau hat sie mir heute gebracht.«
    Pater Roman sah sie an. Seine Augen waren gerötet, er sah aus, als ob er schon längere Zeit nicht mehr gut geschlafen hatte. »Dann wissen Sie also Bescheid?«
    Clara nickte grimmig. »Das hätten wir auch einfacher haben können, nicht wahr?«
    Der Mann hob zweifelnd die breiten Schultern. »Als ich erfuhr, dass Ralph tot war, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ich hatte keine Ahnung, inwieweit er Sie bereits eingeweiht hatte oder ob die ganzen Unterlagen womöglich in die falschen Händen geraten waren … Ich hatte sogar geglaubt … befürchtet, dass die Klinik … ach egal.« Er machte eine resignierte Handbewegung und verstummte.
    »Ralph Lerchenberg hat das Vormundschaftsgericht mit all diesen Versäumnissen in der Klinik konfrontiert, nicht wahr?«, fuhr Clara fort, »und er hat das Gericht vor allem auf seine eigene, jahrelange Schlamperei hingewiesen, auf die Mitschuld der Richter, auf die Möglichkeit einer Strafanzeige …«
    Pater Roman nickte. »Gleich nachdem er es herausgefunden hatte, ist Ralph persönlich zu der zuständigen Richterin gegangen und hat mit ihr über den Fall gesprochen. Er wollte verhindern, dass diese Dinge in einem Prozess breitgetreten werden, aus Angst, die Anwälte der Klinik würden ihm die Worte im Mund umdrehen und alles wäre umsonst gewesen. Zuerst sollte Ruth aus Hoheneck herauskommen, und erst dann wollte er gegen die Klinik vorgehen.« Er sah sie an. »Mit Ihrer Hilfe, wenn Sie es hätten übernehmen wollen.«
    »Und Sie haben für ihn das Gutachten verfasst, damit das Gericht auch aus medizinischer Sicht etwas in der Hand hatte, um Ruth so schnell wie möglich entlassen zu können.«
    Pater Roman nickte vage. »Ja. Das habe ich«, murmelte er und trank einen hastigen Schluck von seinem Bier, als wolle er einen bitteren Geschmack wegspülen.
    Clara betrachtete den großen Mann nachdenklich. Seine Stirn war in tiefe Falten gelegt, und er hatte die wimpernlosen Augen zusammengekniffen, so als würde er etwas Winziges vor ihm auf der Tischplatte betrachten. Plötzlich fiel Clara dieser Kommissar wieder ein. Wie hatte er geheißen? Gruber. Gift-und-Galle-Gruber. Clara lächelte bei dem Gedanken an Ruths Worte. »Was hat dieser Kommissar gegen Sie?«, fragte sie.
    Roman Tenzer lachte.
    Es war ein bitteres, verzweifeltes Lachen und jagte Clara einen Schauer über den Rücken. Irritiert wartete sie, bis er sich wieder beruhigt hatte.
    Als er endlich verstummte und sich wieder Clara zuwandte, waren seine Augen noch stärker gerötet als zuvor. »Wie Sie ja jetzt wissen, bin ich eigentlich Arzt«, begann er nach einem Zögern. »Facharzt für Psychiatrie, genauer gesagt.«
    Er hielt einen Moment inne und hob lauschend den Kopf, als hörte er selbst diesen Titel zum ersten Mal.
    »Ich war viele Jahre in der forensischen Abteilung einer psychiatrischen Klinik hier in der Stadt tätig. Sicherheitsstufe A.« Er hob die Arme. »Meterhohe Zäune, Stacheldraht, vergitterte Fenster. Ein Gefängnis wie andere Gefängnisse auch. Nur dass die Insassen zusätzlich zu den Gittern außen auch noch ihre inneren Gefängnisse mit sich herumschleppen. Dort habe ich auch Ralph Lerchenberg kennengelernt. Er machte ein Praktikum während des Studiums, und nach dem Examen fing er bei uns an.«
    Pater Roman trank sein Bier aus und wischte sich mit der Hand den Mund ab.
    »Ich habe in dieser Zeit viele Gutachten erstellt, unzählige Stunden bei den Gerichten zugebracht …«
    Er schüttelte den Kopf, dann fuhr er leise fort. »Ich hätte rechtzeitig aufhören sollen. Man kann diese Arbeit nicht endlos machen. Ich konnte es nicht. Irgendwann ist Schluss. Die Verantwortung hat mich fast erdrückt, die Prognosen, die man zu stellen hatte: Ist er geheilt? Kann er mit seiner Krankheit umgehen? Wird er es wieder tun? Was wird passieren, wenn dies und wenn das …«
    Seine Stimme wurde lauter, erregter: »Und dann der ständige Druck der Öffentlichkeit. Die Worthülsen der Presse, ihr hysterisches Gekreische: Recht auf Sicherheit, Gefährdung der Allgemeinheit! Die

Weitere Kostenlose Bücher