Brudermord
Schneekönigin glaubt, es sei ein Fortschritt. Jeden Tag stirbt man ein bisschen mehr, und sie halten es für Fortschritt. Doch ich muss ihnen Besserung vorspielen, damit ich nicht mehr da hinein muss. Zu den Gespenstern. Wobei … Besserung von was? Doch alles ist besser als die Gespenster. Ich versuche, sie dir zu beschreiben, mein Geliebter, auch wenn ich inzwischen weiß, dass du meine Briefe nicht bekommen wirst. Höchstens dann, wenn die Gespenster mich gefressen haben. Und dann wird es zu spät sein. Aber es ist ja längst zu spät. Stell dir vor, sie stellen dich ins Nichts. Sie nehmen dir die Welt. Sie nehmen deinen Sinnen jeden Anker. Deine Augen beginnen zu suchen, deine Ohren spitzen sich ins Unendliche. Nichts. Dein Schrei wird verschluckt, sobald er dich verlässt. Du beginnst innerlich zu schreien, aber niemand hört es, denn es gibt niemanden, nichts. Und dann, irgendwann, du weißt nicht wann, denn die Zeit gibt es nicht mehr, beginnen deine Augen sie zu sehen, sie lauern in den Ecken, in den Winkeln deines Bewusstseins, sie haben keine Farbe und kein Gesicht. Und deine Ohren beginnen sie zu hören, andere Schreie als deine eigenen, andere Laute als die, die du kennst. Sie kreischen in deinen Ohren. Aber du kannst nicht fliehen, denn sie haben dir ja die Welt weggenommen. Und du beginnst zu glauben, dass sie dir auch deinen Körper genommen haben, du spürst ihn nicht mehr, er ist nicht mehr da, du kannst dich nicht mehr fühlen, du verschwindest, und in dir schreit es und schreit und schreit …
MÜNCHEN
Als Clara am nächsten Morgen erwachte, war sie aus irgendeinem Grund glücklich. Der Zipfel strahlend blauen Himmels vor ihrem Schlafzimmerfenster versprach einen sonnigen Oktobertag, und sie fühlte sich ausgeruht, entspannt und erfüllt von dieser morgendlichen Leichtigkeit, die daher rührte, dass die üblichen Alltagsgedanken, verbunden mit dem Gefühl drohender Verpflichtungen, noch nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen waren. Es befand sich noch in der fedrigen, gewichtslosen Schwebe zwischen Schlaf und Erwachen, und Clara blieb still liegen, blinzelte mit halbgeschlossenen Augen in den blauen Himmel und versuchte, dieses Gefühl so lange wie möglich auszukosten. Dann sprang sie aus dem Bett und stellte sich eine Viertelstunde unter die heiße Dusche. Mit Elise im Schlepptau spazierte sie später zum samstäglichen Markt bei der Mariahilfkirche und kaufte Salat, Äpfel, einen Kürbis, frisches Brot, Weintrauben, Käse und einen großen Strauß Herbstblumen. Nach einem ausgiebigen Frühstück in ihrer Küche und einer Zigarette am offenen Wohnzimmerfenster mit Blick auf die Kastanie vor ihrem Haus überlegte sie, was sie mit diesem so unverhofft schön begonnenen Wochenende anfangen sollte. Unweigerlich fiel ihr dabei die graue Mappe in ihrer Tasche ein, die noch darauf wartete, gelesen zu werden, und ihr Gespräch mit Pater Roman gestern Abend. Sie schüttelte den Kopf und schloss das Fenster. Das konnte warten. Zwei arbeitsfreie Tage sollten es werden. Das Gefühl von heute Morgen nach dem Aufwachen hielt noch immer an, und sie hatte keine Lust, es sich von dem beklemmenden Gefühl, das sich in der Sache Ruth Imhofen unweigerlich einstellen würden, verderben zu lassen. Noch bevor sie sich einen einzigen Zweifel erlaubte, ging sie in den Flur, um Mick anzurufen.
Kommissar Gruber saß an diesem Samstagvormittag ebenfalls in seiner Küche und las die Zeitung. Ab und zu hob er den Kopf und beobachtete seine Frau Irmgard, wie sie schweigend den Frühstückstisch abräumte. Sie trug Radlerhosen in Pink und Schwarz und ein passendes Stirnband. Ihr Hintern sah grotesk groß in dem glänzenden enganliegenden Stoff aus, und auch die Jacke, die sie darüber trug und die aus diesem neuen Material war, das angeblich so warmhielt und unbedingt hatte sein müssen, hätte mindestens zwei Nummern größer gehört.
Sie sieht aus wie eine Qualle, dachte Gruber böse. Wie eine fette Qualle im Taucheranzug. Früher hatte er die runden Formen seiner Frau gemocht. Hatte sie drall und üppig gefunden. Sexy halt. Wahrscheinlich hatte er ihr das zu selten gesagt. Es waren ja immer die Männer schuld, weil sie zu wenig redeten, zu wenig zärtlich, aufmerksam oder was sonst noch alles waren. Dass sie vielleicht einen Scheißjob hatten und Geld verdienen mussten, damit sich die gnädige Frau ein neues Westerl oder Bluserl kaufen konnte, das interessierte ja niemanden.
Radltreff nannte sich die
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