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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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geschürte Angst der Bürger, all dieser normalen Menschen.«
    Er unterbrach sich abrupt und wandte sich Clara zu: »Wussten Sie eigentlich, dass der Anteil der Sexualstraftaten in Deutschland konstant bei 1% der Gesamtkriminalität liegt und sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht verändert hat? Vergleichen Sie diese Zahl mal mit der Berichterstattung durch die Medien! Wenn man danach geht, möchte man meinen, hinter jedem Busch sitzt ein Kinderschänder.«
    Pater Roman hob die Hand und bestellte ein neues Bier. Als die Bedienung das Glas brachte, trank er es in großen Schlucken fast zur Hälfte aus, bevor er weitersprach. »Ich war womöglich schon lange nicht mehr in der Lage, auf diese Art weiterzuarbeiten, nur wollte ich es nicht wahrhaben. Vor ein paar Jahren ist es dann passiert. Der Supergau, den man immer vor Augen hat, der einen nächtelang nicht schlafen lässt und vor dem jeder Gutachter am meisten Angst hat, auch wenn es natürlich keiner zugibt: Ich hatte einen jungen Mann als Patienten. Er hatte kurz hintereinander zwei junge Frauen brutal vergewaltigt. Drei Jahre war er mein Patient. Er hat gut mitgearbeitet, hat sich sehr bemüht. Seine Kindheit war eine Katastrophe gewesen, er war selbst jahrelang missbraucht worden, der klassische Fall.«
    Er stockte, rieb sich über seinen kahlen Schädel und seufzte.
    »Ich war mir sicher, wo ich nicht hätte sicher sein dürfen. Aber wann kann man jemals wirklich sicher sein? Wenn man anfängt, sich diese Frage zu stellen, muss man aufhören, dann kann man diesen Beruf nicht mehr ausüben. Jedenfalls habe ich ihm eine günstige Prognose erstellt, und er ist auf mein Gutachten hin entlassen worden. Er war keine zwei Wochen draußen, da fand man die Leiche eines Mädchens, mehrfach vergewaltigt und erdrosselt. Von meinem Patienten. Gruber hat in diesem Fall ermittelt, daher kennt und verabscheut er mich.«
    Er schluckte und schloss die Augen.
    »Das Mädchen war zwölf.«
    Clara erwiderte nichts. Das Lokal hatte sich zwischenzeitlich gut gefüllt, doch das Lachen und die Gesprächsfetzen, die zu ihnen drangen, schienen aus einer anderen Welt zu kommen. Ungebeten drängten sich ihr Bilder auf, ein totes Mädchen, irgendwo verscharrt im Gebüsch, Suchhunde, Bereitschaftspolizei, Kommissar Gruber mit den scharfen, dunklen Augen und dem bitteren Zug um den Mund. Das Gutachten, der Moment, in dem Pater Roman die Nachricht vom Tod des Mädchens bekam … Clara wandte den Blick von dem Mann ab, der so verzweifelt aussah, als habe sich diese ganze Geschichte erst gestern ereignet. Abwesend streichelte sie über Elises warmen Kopf. Die Dogge hatte sich im Bemühen, eine gemütlichere Schlafstellung unter der Bank zu finden, aufgerichtet und saß neben ihr, die große Schnauze fast auf Tischhöhe. Mit einem genussvollen Seufzer bettete sie ihren Kopf auf Claras Oberschenkel und schloss wieder die Augen. Clara streichelte weiter und wartete.
    Nach einigen Minuten fuhr Pater Roman fort: »An dem Tag, als ich davon erfuhr, habe ich in der Klinik aufgehört. Die Leitung hatte sich zwar hinter mich gestellt, niemand von meinen Kollegen hat mir einen Vorwurf gemacht. Doch für mich spielte das keine Rolle mehr. Über ein halbes Jahr habe ich überhaupt nicht gearbeitet. In dieser Zeit sind mir plötzlich alle Haare ausgegangen, ohne dass es irgendeine medizinische Erklärung dafür gegeben hätte. Ich habe angefangen zu trinken, bekam Depressionen. Dann hat mich mein ehemaliger Doktorvater angesprochen, er suchte damals einen neuen Leiter für das Haus Maximilian. Er ist Jesuit. Ich habe sein Angebot angenommen, und dann wurde aus Dr. Tenzer irgendwann Pater Roman.« Er hob die Hände, resigniert, müde.
    »Als Sie dieses Gutachten für Ruth Imhofen erstellt haben«, nahm Clara den Faden nach endlosen Minuten des Schweigens schließlich zögernd wieder auf, »wollten Sie … versuchten Sie … etwas wiedergutzumachen, oder?«
    Pater Roman nickte, verzog dann aber das Gesicht. »Sie denken sicher, wie lächerlich, als ob man so etwas wiedergutmachen könnte …«
    Clara wiegte nachdenklich mit dem Kopf. »Vielleicht ist Wiedergutmachung nicht das richtige Wort. Vielleicht geht es mehr um eine Art Gleichgewicht, um den Versuch, mit seiner Schuld, oder was man für seine Schuld ansieht, leben zu können.«
    Pater Roman sah sie an. »Sie sind eine kluge Frau, Clara. Aber leider hat es nichts genützt. Es ist mir nicht gelungen, ein Gleichgewicht herzustellen, im Gegenteil, die

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