Brudermord
ersten Mal an diesem Abend wieder Ähnlichkeit mit dem Mann gehabt, den sie in seinem Büro, in dem Frank Zappa neben dem Kruzifix hing, zum ersten Mal gesehen hatte.
»Was ist schon normal?«, hatte er zurückgefragt. »Wer entscheidet das? Sind Sie normal?«
Clara hatte ihn angesehen, und ihr war plötzlich merkwürdig zumute geworden. Als ob Grenzen und Wahrheiten, die man immer für unverrückbar gehalten hatte, plötzlich verschwammen. Unverrückbar. Verrückt. Ließ sich die Realität verschieben, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man es betrachtete? Gab es dann überhaupt noch so etwas wie Realität? War dann nicht alles subjektiv?
Ein Gefühl von Einsamkeit hatte sie bei diesen Gedanken plötzlich gepackt, das Gefühl, sie könne womöglich ihre Sicht der Dinge niemals wirklich mit jemandem teilen, nie eine echte Verbindung herstellen. Eine Leere, die ihr Angst machte und die sie versucht hatte, so schnell wie möglich abzuschütteln.
Sie vergrub ihre Hände tief in ihrer Jacke und brummte zu Elise gewandt: »Und ich dachte immer, mein Beruf wäre schwer.«
Die Reichenbachbrücke spannte sich leer und verlassen über den unsichtbaren Fluss. Clara blieb in der Mitte stehen, dort, wo sie meistens stehenblieb, und sah hinunter in die dunklen Isarauen. Ihre Füße taten höllisch weh, sie hatte sich in ihren neuen Stiefeln zwei dicke Blasen zugezogen, die jetzt aufgeplatzt waren und bei jedem Schritt scheuerten.
Elise lief weiter zu der Treppe, die auf die Wiese hinunterführte, und verschwand in der Dunkelheit.
»Ist unverrückbar das Gegenteil von verrückt?«, fragte Clara in die Nacht hinaus. »Vielleicht muss man zuerst verrückt werden, um an den richtigen Platz zu gelangen«, überlegte sie weiter und musste plötzlich lachen. Im Haus ihrer Großmutter, in dem jetzt ihre Eltern wohnten, hatte es im Flur einen schönen kleinen Nähtisch aus Mahagoni gegeben. In der Schublade waren viele kleine Fächer, voll mit bunten Garnspulen, Fingerhüten, Nadeln und seltsamen Knöpfen, die ihre Großmutter noch aufbewahrt hatte, auch als es das dazu gehörige Kleidungsstück schon längst nicht mehr gab. Clara hatte als Kind mit dem Tisch immer Kaufladen gespielt, ein Hirschhornknopf war ein Mandelzimtplätzchen gewesen und die kleinen weißen Wäscheknöpfe Zitronenbonbons. Im Laufe der Jahre war der Flur immer mehr zugestellt worden, und als ihre Großmutter gestorben war, hatte der kleine Tisch, eingezwängt zwischen einem billigen Schuhregal und einem wackeligen Kleiderständer, voll mit längst aus der Mode gekommenen Wintermänteln, von denen sich die alte Frau nicht hatte trennen können, ein kümmerliches Dasein gefristet. Ihren Eltern hatte der Tisch nicht gefallen, und sie hatten ihn bei ihrem Umzug nach Starnberg in die alte Remise zu den ausrangierten Hirschgeweihen und Landschaftsgemälden gestellt, wo er langsam verstaubte. Später, nachdem Clara aus Irland zurück nach München gekommen war und sich nach etlichen anstrengenden Zigeunerjahren in diversen WG’s endlich eine eigene Wohnung leisten konnte, hatte sie den Tisch mitgenommen. Dort stand er heute noch. Allein, ohne hässlichen Nachbarn, schlicht und schön an der Wand im Flur: Dem Nähtisch war das Verrückt-Werden recht gut bekommen.
Clara humpelte ein paar Schritte weiter und pfiff nach ihrem Hund. Das lange Stehen hatte ihren Füßen gar nicht gutgetan. Ihre Fersen brannten wie Feuer. Kurz entschlossen zog sie die Stiefel und ihre Strümpfe aus und lief barfuß weiter. Der Asphalt war eiskalt, und ihre Fußsohlen prickelten. Elise schnupperte an ihren nackten Füßen und warf ihr einen erstaunten Blick zu, bevor sie weiterlief. Als ein Auto vorbeifuhr, dachte Clara einen Moment lang über das Bild nach, das sie abgab, in einer kalten Oktobernacht barfuß durch München spazierend, die Schuhe in der Hand und eine kalbgroße Dogge an ihrer Seite. Ganz schön verrückt. Sie zuckte mit den Schultern, und das unbehagliche Gefühl, das sie bei dem Gespräch mit Pater Roman erfasst hatte, verflüchtigte sich endgültig. »Was ist schon normal?«, flüsterte sie leise, wackelte mit den Zehen und freute sich über die kleinen Steine, die sie unter ihren Füßen spüren konnte.
CADAQUÉS
Mein Geliebter,
wenn ich nicht mehr schreiben kann, dann haben sie gewonnen. Noch ist es nicht so weit. Heute ist es mir gelungen, die Tabletten nicht zu nehmen. Ich gebe mich brav, folgsam, lächle. Sie freuen sich darüber. Die
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