Brudermord
entlassen, gleich null gewesen war. In einem alten Ärzteverzeichnis, das Clara im Internet gefunden hatte, war als Wohnort Starnberg angegeben. Clara hatte im aktuellen Telefonverzeichnis nachgeschlagen, tatsächlich gab es in Starnberg eine Frau Dr. Agnes Thiele. Sie hatte sich die Adresse notiert. Ebenfalls aus dem Ärzteverzeichnis wusste sie, dass Frau Thiele Jahrgang 1930 war. Also war sie jetzt eine alte Frau, längst im Ruhestand. Vielleicht gelang es Clara, sie zum Reden zu bringen, vielleicht wollte die Ärztin reinen Tisch machen? Sicher war Ruth nicht die einzige Patientin gewesen, die man auf diese Weise misshandelt hatte. Vielleicht gelang es Clara, noch andere Leidensgenossen zu finden.
Diese Klage musste so hieb- und stichfest sein wie nur irgend möglich. Sie würde eine Menge Staub aufwirbeln, da konnte sie nicht riskieren, wegen unzureichender Beweise oder medizinischer Ungenauigkeiten zu scheitern. Ihr wurde ein wenig schwindlig, als sie daran dachte, was vor ihr lag. Sie würde Willi bitten, den Fall mit ihr zusammen zu bearbeiten. Er war der Tüftler unter ihnen, der Besonnene, der Lücken in der Argumentation und mögliche Fallstricke ausmachen konnte wie kein anderer. Sie schenkte sich ein großzügiges Glas Whiskey ein. »Ich krieg’ dich an den Eiern, Selmany«, flüsterte sie und trank einen großen Schluck, der in ihrer trockenen Kehle wie Feuer brannte. »Du wirst keinen Fuß mehr auf den Boden kriegen, wenn ich mit dir fertig bin, das verspreche ich dir.«
Claras hektische Aktivitäten zur Vorbereitung einer Klage gegen die Klinik konnten das Entsetzen über ihre Entdeckung jedoch nur vorübergehend eindämmen. Als sie im Bett lag, kamen die Bilder in unverminderter Deutlichkeit zurück. Das Wort Folter verfolgte sie in ihre Träume hinein, leuchtete in einem kalten neongrünen Flimmern über den verschwommenen Bildern von endlosen Gängen und engen, leeren Kammern. Sie träumte von Schreien, die in ihren Ohren hallten, und ihr war, als würde sie festgehalten, auf einem Stuhl gefesselt, und sie erkannte, dass es ihre Schreie waren, die sie hörte. Irgendwann kroch das Wort in sie hinein, drang in ihre Ohren und Nasenlöcher, breitete sich hinter ihren Augäpfeln aus wie ein Parasit und klopfte und hämmerte gegen ihren Schädel: Folter! Folter! Folter!
Clara erwachte stöhnend und mit heftigem Herzklopfen. Ihre Gliedmaßen waren so sehr in die Bettdecke verwickelt, dass sie sich nicht bewegen konnte, was sie für einen Augenblick in helle Panik versetzte. Wie eine Verrückte strampelte sie sich frei und blieb schließlich schwer atmend und schweißgebadet auf dem leeren Bett liegen. Obwohl es erst kurz nach fünf war, konnte sie nicht wieder einschlafen. Nach ein paar halbherzigen Versuchen stand sie schließlich auf und kochte Kaffee. Fröstelnd saß sie auf ihrem Küchenstuhl und wärmte ihre Hände an der heißen Tasse.
Sie versuchte erneut zu begreifen, was sie gestern gelesen hatte. Sie versuchte es in ihren Alltagsverstand einzuordnen. Es war nichts, was irgendwo, vielleicht geschehen sein mochte, weit weg, in einem fremden Land, einer längst vergangenen Zeit oder mit welchen Beschwichtigungen auch immer man sich sonst zu beruhigen versuchte, wenn man Ähnliches in der Zeitung las oder ein abstoßendes Foto zu Gesicht bekam. Kein fremdes Land, kein Krieg, keine »andere Kultur«. Nichts von alldem. Hier vor ihrer Haustür, im reichen, beschaulichen Starnberg, war so etwas möglich gewesen. Man hatte einen hilflosen Menschen, der eigentlich der rechtsstaatlichen Kontrolle und Obhut unterlag, zu einem Versuchstier gemacht. Der Staat hatte ihn diesen Ärzten ausgeliefert. Und vergessen.
Clara spürte, wie ihr übel wurde. Die Küche schien plötzlich kleiner zu werden, die Wände rückten zusammen, sie würden sie zerquetschen, wenn sie hier sitzenblieb. Sie begann hektisch zu atmen, hyperventilierte und merkte, wie ihre Hände zu kribbeln begannen und ihr schwindlig wurde. Hastig sprang sie auf und lief ins Bad. Dort übergab sie sich, würgte und hustete krampfhaft, nichts als Kaffee und Galle. Erschöpft blieb Clara neben der Kloschüssel sitzen. Ihr Nacken war schweißnass, und sie zitterte. Ein Whiskey, kam ihr plötzlich in den Sinn, ein kleiner Schluck Whiskey, nur zur Beruhigung …
»Nein!« Wie ein großes Stoppschild erschien dieses Wort vor ihren Augen, und im gleichen Moment verebbte das Bedürfnis. Sie atmete tief ein, dann stand sie auf. Ihre Beine waren
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