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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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am Nachmittag mit Ruth vor Kommissar Grubers Zimmer im Präsidium wartete, war ihre Kampfeslust deutlich gedämpft. Ruth hatte sich rundheraus geweigert zu sagen, wo sie an jenem Sonntag gewesen war. Auf Claras Fragen, die zuerst behutsam, dann immer drängender und zum Schluss ziemlich wütend ausgefallen waren, hatte Ruth immer nur den Kopf geschüttelt, stumm, die Lippen aufeinandergepresst. Am Ende hatte sie die Augen zusammengekniffen wie ein kleines Kind, das den Spinat nicht essen wollte, den man ihr hinhielt, und wieder mit diesem monotonen Flüstern begonnen. Da war Clara klar geworden, dass es genug war, und sie hatte mit den Fragen aufgehört.
    Sie waren mit dem Taxi gekommen, und Ruth, die die Sachen trug, die sie am Vortag mit Clara gekauft hatte, hatte sich langsamer denn je auf das Gebäude zubewegt, jeder Schritt schien endlos zu dauern, und Clara wurde immer nervöser. Jetzt saß sie mit gesenktem Kopf neben ihr, und Clara konnte die Angst spüren, die von ihr ausging. Die Angst und den Versuch, sich zu wappnen, sich noch tiefer in sich zurückzuziehen zum Schutz vor dem, was sie erwartete.
    Gruber ließ sie fast eine Stunde warten. Als er endlich kam, war Clara sich sicher, dass dieser Nachmittag in einer Katastrophe enden würde. Ruth saß zusammengesunken auf ihrem Stuhl wie eine Marionette, der man die Fäden abgeschnitten hatte. Sie hatte die ganze Zeit geschwiegen, auf Claras zögernde Versuche, etwas Konversation zu betreiben, nicht geantwortet, und vor etwa zwanzig Minuten hatte sie wieder mit diesem enervierenden Gemurmel begonnen.
    Irgendwann hatte Clara es nicht mehr ausgehalten und ihre Hand auf Ruths Arm gelegt: »Bitte, hören Sie damit auf.«
    Ruth war verstummt, doch als Clara einen verstohlenen Seitenblick auf sie warf, sah sie, wie sich ihre Lippen noch immer bewegten. Unablässig, lautlos. Clara wandte den Kopf ab und zündete sich eine Zigarette an, die zahlreichen Rauchverbotsschilder bewusst ignorierend.
    In dem Moment kam Kommissar Gruber aus der Tür. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und presste wütend hervor: »Rauchen ist hier nicht erlaubt!«
    Clara nahm noch einen Zug, dann sagte sie: »Ich weiß.«
    Es war unklug, ihn zu provozieren. Es war kindisch und dumm, und sie sollte es lassen. Aber sie brauchte ein Ventil, um die Anspannung loszuwerden, die sich während dieser Stunde neben der flüsternden Ruth immer weiter gesteigert hatte. Es war sicherlich Absicht von Gruber gewesen, sie so lange warten zu lassen. Pure Bosheit und eine Demonstration der Machtverhältnisse. Zumindest so, wie Gruber sie sah. Sie brauchte ihre kleine dumme Rache diesem Mann gegenüber.
    Gruber war klug genug, nicht zu antworten. Er presste nur die Lippen zusammen und musterte Clara böse aus seinen kleinen dunklen Augen.
    Clara drückte die Zigarette in der Schachtel aus. Dann stand sie auf und reichte ihm die Hand. »Grüß Gott, Herr Gruber. Schön, dass Sie noch Zeit für uns gefunden haben.«
    Gruber nickte nur knapp und wandte sich dann ab. Clara und Ruth folgten ihm den Flur entlang in einen großen leeren Raum, in dem Kommissarin Sommer sie schon erwartete. Als Gruber ihnen eröffnete, dass es eine Gegenüberstellung mit der Zeugin geben werde, war Clara nicht überrascht. Sie hatte so etwas in der Art schon erwartet und versucht, Ruth darauf vorzubereiten. Man bat Ruth, sich zusammen mit mehreren, ähnlich aussehenden Frauen in einer Reihe aufzustellen, und holte dann die Zeugin. Eine ältere Frau im dunklen Mantel mit kurzen grauen Haaren trat zögernd über die Schwelle und sah sich ängstlich um. Kommissarin Sommer führte sie zu den wartenden Personen und erklärte ihr, was von ihr erwartet wurde.
    Abrupt blieb die Frau stehen. »Aber wo ist denn die Scheibe?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
    »Welche Scheibe?«
    »Die Glasscheibe! Damit die Mörderin mich nicht sieht!« Ihre Stimme wurde lauter. Sie sah sich hektisch um.
    »Es gibt keine Scheibe, Frau Ber …«, begann Kommissarin Sommer, doch ein Schrei unterbrach sie.
    Die Frau hatte die Hände vor den Mund geschlagen und starrte sie entsetzt an. »Sie werden doch nicht meinen Namen sagen! Da kann die Mörderin ja kommen und mir hoppla hopp den Schädel einschlagen …«
    Kommissar Gruber schaltete sich ein: »Jetzt beruhigen Sie sich mal. Es steht doch noch gar nicht fest, ob es sich überhaupt um Tatverdächtige handelt. Schauen Sie sich die Personen einfach genau an, und wenn Sie jemanden erkennen, dann

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