Bruderschaft der Unsterblichen
getan hat, als sich die Schnürsenkel zuzubinden, geht mit der vornehmen Haltung eines Landedelmanns an die Arbeit – noblesse oblige sagt er mit jeder seiner matten Bewegu n gen. Er arbeitet, wie die Brüder es ihm aufgetragen h a ben, aber er läßt dabei keinen Zweifel offen, daß er sich nur deshalb dazu herabläßt, seine Finger schmu t zig zu machen, weil ihm ihr kleines Spiel Spaß macht. Nun, graben tun wir alle, wenn auch jeder auf seine Weise.
Gegen zehn Uhr wird es unangenehm heiß, und wir verlassen die Felder, alle bis auf drei Farmerbrüder, d e ren Namen ich noch nicht kenne. Sie verbringen zehn bis zwölf Stunden täglich draußen; vielleicht eine Art Buße? Wir anderen, sowohl Brüder als auch Fruchtboden, beg e ben uns auf unsere Zimmer und baden ein weiteres Mal. Dann versammeln wir vier uns im anderen Flügel zu u n serer täglichen Sitzung mit Bruder Miklos, dem G e schichtsbruder.
Miklos ist ein kompakt und kräftig gebauter kleiner Mann mit Armen wie Oberschenkeln und Oberschenkeln wie Baumstämmen. Er macht den Eindruck noch älter als die anderen Brüder zu sein, obwohl ich zugebe, daß es sich paradox anhört, einen Komparativ wie „älter“ bei einer Gruppe von zeitlosen Wesen zu gebrauchen.
Er spricht mit einem schwachen, unidentifizierbaren Akzent, und seine Gedankenabläufe sind alles andere als linear: Er schweift ab, wandert herum, gleitet völlig u n erwartet von einem Thema ins andere. Ich glaube, daß das Absicht ist und daß sein Verstand eher subtil und unergründlich ist als senil und undiszipliniert. Vielleicht ist es ihm im Verlauf der Jahrhunderte zu langweilig g e worden, bloß aufeinanderfolgende Gedankengänge zu verfolgen; ganz sicher würde es mir so ergehen.
Zwei Themen bringt er uns nahe: den Ursprung und die Entwicklung der Bruderschaft und die Geschichte des Begriffs der menschlichen Langlebigkeit. Beim ersten Thema ist er am schwersten faßbar, oder anders ausg e drückt, er zeigt uns nie eine stringente Linie auf. Wir sind sehr alt, sagt er immer wieder, sehr alt, sehr alt, und ich kann dann nie genau sagen, ob er die Brüder oder die Bruderschaft selbst meint, wahrscheinlich beide; vie l leicht sind ja einige Brüder schon von Anfang an dabei, haben ein Leben hinter sich, das nicht nur Jahrzehnte oder Jahrhunderte, sondern ganze Jahrtausende umfaßt. Bruder Miklos deutet prähistorische Ursprünge an: die Höhlen in den Pyrenäen, Dordogne, Lascaux, Altamira , eine geheime Bruderschaft von Schamanen, die noch aus der Zeit des Erwachens der Menschheit stammt. Doch was davon wahr ist und was ins Reich der Fabel gehört, kann ich genausowenig sagen wie, ob die Rosenkreuzler ihren Ursprung wirklich von Amenhotep IV. ableiten können. Aber wenn der Bruder spricht, habe ich die V i sion von verrauchten Höhlen, flackernden Fackeln, hal b nackten Künstlern, die nur das Fell eines wolligen Mammuts um den Bauch gebunden haben und helle Farbstoffe an die Wände schmieren, und Medizinmä n nern, die rituell das Schlachten von Auerochs und Rhin o zeros durchführen. Und die Schamanen wispern, hocken sich zusammen und flüstern, erzählen sich gegenseitig: Wir werden nicht sterben, Brüder, wir werden weiterl e ben, den Aufstieg Ägyptens aus den Überschwemmu n gen des Nils beobachten, die Geburt von Sumer, wir werden leben, um Sokrates, Caesar, Jesus und Konstantin zu sehen, und ja, wir werden immer noch vorhanden sein, wenn der schreckliche Pilz mit der Helligkeit einer Sonne über Hiroshima aufsteigt und wenn die Männer aus dem Metallschiff die Leiter hinunterklettern, um die Oberfl ä che des Mondes zu betreten. Doch hat Miklos wirklich nur das erzählt, oder habe ich das nur im Dunst der Mi t tagswüstenhitze geträumt? Alles ist so obskur; alles en t gleitet, zerschmilzt und zerläuft, wenn sein labyrinthart i ger Wortschwall sich um sich selbst dreht, verdreht, tanzt und verwickelt. Und siebartig und umschreibend erzählt er uns von einem verlorenen Kontinent, einer unterg e gangenen Zivilisation, der das Wissen der Bruderschaft entsprang. Und wir starren ihn an, mit großen Augen, tauschen untereinander kurze, erstaunte Blicke aus, wi s sen nicht, ob wir aus skeptizistischer Verachtung kichern oder vor Aufregung keuchen sollen. Atlantis! Wie hat Miklos das bloß angestellt, in unsere Hirne diese Bilder zu zaubern: ein glitzerndes Land aus Gold und Kristall, breite belaubte Alleen, hohe, weißwandige Gelände, leuchtende Kutschen, begnadete Philosophen in walle
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