Bruderschaft der Unsterblichen
solltest oder genauso viele Jahrzehntausende, denke immer daran, daß kein Mensch ein anderes Leben verlieren kann als sein eigenes … Das längste und das kürzeste Leben laufen auf dasselbe hinaus … alles, was die Ewigkeit betrifft, hat eine Form und dreht sich im Kreis … es spielt überhaupt keine Rolle, ob ein Mensch alles in einhundert oder zweihundert Jahren erfahren kann oder in einer unbegrenzten Zeitspanne. Und von Aristoteles will ich ein Wort im Herzen bewahren: De s halb befinden sich alle Dinge auf der Erde zu jeder Zeit in einem Stadium des Kreislaufs: Sie entstehen und ve r gehen wieder … sie können niemals ewig währen, wenn sie gegensätzliche Ideen enthalten.
Soviel Rauheit. Solcher Pessimismus. Akzeptiere es, unterwirf dich, ergib dich, sterbe; sterbe, sterbe, sterbe!
Was sagt die jüdisch-christliche Überlieferung? Der Mensch, der aus einer Frau geboren wurde, hat nur einige Tage zur Verfügung, und diese sind voller Unbilden. Er blüht auf wie eine Blume und wird ebenso abgeschnitten: Er ist nicht mehr als ein Schatten und kann nicht von Dauer sein. Wissen, daß seine Tage vorbestimmt sind, die Zahl seiner Monate begrenzt ist und er beladen ist mit Pflichten, denen er nicht entkommen kann. Die traurige Weisheit des Hiob, die er auf härteste Weise erlangte. Was sagt uns Paulus? Für mich gehört das Leben Chr i stus, und das Sterben ist ein Gewinn. Sollte das Fleisch von Leben erfüllt sein, so hat das für mich den Sinn, fruchtbare Arbeit zu leisten. Und doch weiß ich nicht, wofür ich mich entscheiden soll. Ich stehe wie gespalten vor beiden Möglichkeiten. Mein Wunsch strebt danach, abzuleben und an der Seite von Christus zu sein, denn das will mir weitaus besser erscheinen. Aber, mahnt Br u der Miklos, müssen wir solche Belehrungen annehmen? (Er gibt uns zu verstehen, daß Paulus, Hiob, Lukrez, Mark Aurel, Gilgamesch allesamt Nachzügler gewesen seien, noch nicht ganz trocken hinter den Ohren, hof f nungslos postpaläolithisch; und wieder einmal gewährt er uns einen kurzen Einblick in die dunklen Höhlen, als er zu seinem Thema über die auerochsenreiche Zeit des P a läolithikums kommt.) Nun entsteigt Miklos plötzlich di e sen Niederungen der Verzweiflung, und über einen we i ten Bogen eines Rückkreislaufs befinden wir uns wieder beim Vortrag über die Annalen der Langlebigkeit. All die gewaltigen Namen, die Eli uns in den Wintermonaten dauernd vorbetete, als wir immer tiefer in dieses Abe n teuer stürzten, eine lange, einsame, geliebte, ausdauernde Reise, vorbei an Adam und Eva, von Pontius zu Pilatus. Und Miklos zeigt uns die Inseln der Gesegneten, das Land der Hyperboräer, das keltische Land der Jugend, das Land Yima der Perser und sogar Shangri-La . (Wisset, schreit der alte Fuchs, ich war ein Zeitgenosse, ich war dabei!) Und der Bruder schleudert uns Ponce de Leons undichten Brunnen entgegen und Glaukus, den Fischer, der die Kräuter, die am Rand des Sees wachsen, kennt und mit der Unsterblichkeit grün wird. Miklos bedenkt uns mit den Fabeln aus Herodots Werk, den Uttarakurus- und den Jambu-Baum, schüttelt hundert leuchtende M y then vor unseren verwirrten Ohren, so daß wir aufschre i en möchten, Hierher! Komm her, Ewigkeit! und uns vor dem Totenschädel niederknien. Dann wechselt er wieder, führt uns in einen Möbius-Tanz, treibt uns in die Höhlen zurück, läßt uns das Beißen eiskalter Winde spüren, den frostigen Kuß aus dem Pleistozän. Dann packt er uns an den Ohren, dreht uns nach Westen und läßt uns die heiße Sonne sehen, die über Atlantis scheint, schiebt uns weiter auf unserem Weg voran, wir stolpern, wir kriechen, dem Meer entgegen, den Ländern des Sonnenuntergangs en t gegen, den untergegangenen Wundern von Atlantis en t gegen und daran vorbei, nach Mexiko zu seinen däm o nenhaften Göttern, seinen Totenschädel-Göttern, zum boshaften Huitzilopochtli und dem schrecklichen, schlangengleichen Coatlicue, zu den roten Altaren von Tenochtitlan, zum enthäuteten Gott, zu all den Paradoxen vom Leben-im-Tod und Tod-im-Leben, und der gefiede r te Schlangengott lacht und schüttelt seinen Klappe r schwanz, klick-klick, und wir stehen vor dem Schädel, vor dem Schädel, vor dem Schädel, und ein großer Gong hallt durch unseren Verstand, aus den Labyrinthen in den Pyrenäen, wir trinken das Blut der Ochsen aus Altamira, wir tanzen mit den Mammuts in Lascaux, wir hören die Tambourine der Schamanen, wir knien nieder, wir berü h ren den Stein mit
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