Bruderschaft der Unsterblichen
weitergezogen, habt eure Beute mitgenommen, eure Masken, eure Totenschädel, eure Statuen und eure paläolithischen Schätze; seid nach Norden gezogen, in das neue Land, das leere Land, das Herz der Wüste der Vereinigten Staaten, das Land der Bombe, das Land der Schmerzen. Und mit dem ang e wachsenen Eifer eures Alters habt ihr ein neues Haus der Schädel gebaut, was, Miklos, und hier sitzt du, und hier sitzen wir. Ist es so gewesen? Oder habe ich mir das alles nur eingebildet, habe ich deine vagen und trüben Worte zu einem fröhlichen, selbsttäuschenden Tagtraum z u sammenfließen lassen? Woher soll ich das wissen? W o her soll ich das jemals wissen? Ich habe nur deine Worte, die schleierhaft, taumelnd und fliehend in meinem Verstand sind. Und ich kann das sehen, was mich u m gibt, diese Verseuchung eures vorherrschenden Symbols durch die aztekische, christliche und atlanteische Brille. Und ich kann mich nur fragen, Miklos, wie kommt es, daß du immer noch hier sitzt, so das Mammut schon längst die Weltbühne verlassen hat? Und ich frage mich: Bin ich ein Idiot oder ein Prophet?
Der andere Bereich, den Bruder Miklos uns nahebri n gen soll, ist weniger verkümmert, eher bereit, ergriffen zu werden und nicht aus der Reihe zu tanzen. Er umfaßt eine Übung in Lebensverlängerung, in der Miklos lässig durch Zeit und Raum streift, auf der Suche nach Ideen, die möglicherweise erst lange nach ihm die Welt betr a ten. Um einen Anfang zu machen – warum soll man sich überhaupt gegen den Tod wehren, fragt er uns. Ist der Tod nicht eine natürliche Sache, eine wünschenswerte Erlösung von der harten Arbeit, ein Ziel, das jeder Go t tesfürchtige sich wünschen muß? Der Schädel unter u n serem Gesicht erinnert uns daran, daß alle Lebewesen zu ihrer Zeit abtreten müssen, keines bildet eine Ausnahme: Warum dann überhaupt diesem universalen Willen tro t zen? Aus Staub bist du geworden, und Staub sollst du wieder werden, was? Alles Fleisch soll miteinander ve r gehen; wir verschwinden wieder wie ein Staubkorn, und für jedermann muß die Vorstellung schrecklich sein, es existiere etwas, das unauslöschbar ist. Aber was geben wir uns mit solcher Philosophie ab? Wenn es unsere B e stimmung ist abzuleben, muß es dann nicht auch unser Wunsch sein, den Zeitpunkt unseres Todes hinausz u schieben? Miklos’ Fragen sind rhetorisch gemeint. Mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzen wir vor diesem muskelbepackten Berg an Jahren und wagen nicht, den Rhythmus seiner Gedanken zu stören. Er sieht uns an, ohne zu sehen. Was, so fragt er, was, wenn jemand wir k lich den Tod auf unbestimmte Zeit zurückdrängen oder ihn zumindest in eine ferne Zukunft verbannen könnte? Natürlich muß man dazu die eigene Gesundheit und Kraft pflegen: Man kann diesen Lohn doch nicht erri n gen, wenn man ein Klappergestell geworden ist, alt und sabbernd, brabbelnd und rheumatisch, eine museumsreife Ansammlung von Zerfallserscheinungen. Denkt an T i thonus, der die Götter um Erlösung vor dem Tode bat und mit der Unsterblichkeit belohnt wurde, aber nicht mit der ewigen Jugend; grau und verwelkt liegt er in einem versiegelten Raum und wird immer älter, eingeschlossen in der Beengtheit seines vergänglichen und verführten Fleisches. Nein, wir müssen sowohl nach der Langlebi g keit als auch nach Lebenskraft streben.
Und dann gibt es jene, gibt Bruder Miklos zu bede n ken, die solche Fragestellungen verachten und sich gegen eine passive Akzeptierung des Todes wehren. Er erinnert uns an Gilgamesch, der vom Tigris zum Euphrat zog, um die dornige Pflanze der Ewigkeit zu suchen und sie an eine hungrige Schlange verlor. Gilgamesch, wohin gehst du? Das Leben, welches du suchst, sollst du nicht finden; denn als die Götter die Menschheit erschufen, versahen sie sie mit dem Tod, aber das Leben selbst behielten sie. Denkt an Lukrez, sagte der Bruder und bemerkte dann, daß es sinnlos sei, der Lebensverlängerung nachzustr e ben, denn wie viele Jahre man auch durch solche Aktiv i täten erringen könne, sie seien nichts im Vergleich zu den Ewigkeiten, die wir als Tote verbringen müßten. Durch die Lebensverlängerung können wir kein Jota von der Dauer unseres Todes abziehen oder abschaben … Wir mögen darum kämpfen und bleiben, aber wenn uns e re Zeit gekommen ist, müssen wir gehen, ganz egal, wie viele Generationen wir im Laufe unseres Lebens gesehen haben, uns erwartet der gleiche ewige Tod.
Und Marc Aurel: Auch wenn du dreitausend Jahre lang leben
Weitere Kostenlose Bücher