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Brüchige Siege

Brüchige Siege

Titel: Brüchige Siege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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herumhumpeln konnte, entließ mich Dr.
    Nesheim. Die beiden letzten Tage in Highbridge verbrachte ich
    auf ›unserer‹ alten Mansarde in McKissic House. Alles, was an
    Henry erinnert hätte, war fort: das Bett mit der
    Sperrholzverstärkung, das selbstgemachte Bücherregal, der aus
    Gras geflochtene Raumteiler, das stumpfe Foto der William-
    Blake-Zeichnung, einfach alles. Um mir das quälende
    Treppauf und Treppab zu ersparen, hatte Mister JayMac mir
    ein Quartier im Parterre geben wollen, doch ich hatte nach
    oben in die Mansarde gewollt, auch dann noch, als ich sah, wie fremd – nackt, ausgeweidet und groß – sie nach der Säuberungsaktion wirkte. Das mühsame Treppauf und
    Treppab, erklärte ich, sei die beste Therapie.
    »Wir glauben, daß Clerval heimlich hier war, um sich die
    kleineren Sachen zu holen«, erklärte mir Mister JayMac am
    Montag. »Als ich mit Mr. Curriden in die Dachstube kam, um
    Bett und Regal abzubauen, da waren sie fort.« (Und war ein
    Hellbender einmal fort, stellte ich fest, dann war er kein
    ›Mister‹ mehr.)
    »Henry hat seine eigenen Sachen geklaut?«
    »Das ist ein begrifflicher Widerspruch, Mr. Boles. Wenn man
    allerdings bedenkt, daß er polizeilich gesucht wird und für
    Verpflegung und Unterkunft im Rückstand ist, war es
    ungesetzlich, sich die Sachen zu holen – eine Schläue, die er womöglich von Darius übernommen hat.«
    »Er wollte Hoey nicht umbringen«, sagte ich. »Ich meine,
    jemanden töten ist einfach nicht Henrys Art.«
    »Tja, das hätte ich ihm nicht mal verdenken können.

    Am schlimmsten finde ich noch, daß er so kurz vor dem Ziel
    aufgegeben hat, diese Borniertheit, die ihn dazu getrieben hat.«
    »Er mochte mich leiden«, sagte ich.
    Ein Muskel neben Mister JayMacs Auge zuckte. »Weder
    Clerval noch sonst jemand hat Ihre Notizbücher angerührt.
    Alles ist so, wie Sie es zurückgelassen haben. Bis auf das
    Hellbender-Trikot und den Stapel Unterwäsche – Kizzy hat die
    Sachen gewaschen und gebügelt.«
    Und woher wußte Mister JayMac von meinen Notizbüchern,
    die da in meinem mit Messer und Tinte tätowierten Schulpult
    schlummerten, wenn niemand sie angerührt hatte?
    Mit einem Mal begriff ich, daß meine Notizbücher
    wahrscheinlich die weltweit einzige Kopie von »Durch Reue zur Selbstachtung: Mein zweites Leben« enthielten. Henrys Original war bei Miss Giselles Selbstmord zu Asche zerfallen.
    Ich fuhr mit den Fingern über die Eichenklappe, machte aber
    keine Anstalten, sie anzuheben und hineinzuspähen.
    Mister JayMac ging ans Fenster, das auf die Feuertreppe
    hinausging. Sein Blick glitt über den Victory-Garten, den
    handgemähten Hang hinab und vorbei an seiner Sommerlaube
    auf den Hellbender-Weiher hinaus. Es war ein trockener
    September gewesen; das Korn war zu braunen papierenen
    Spindeln verkommen, und die Wiese zeigte gelbliche
    Hitzeringe unterschiedlicher Größe
    – verwunschene
    Feenreigen –, eingesengt ins Gras, einander überlappend oder
    als einsame Zirkel.
    »Was meinst du, warum Giselle das getan hat, Danny?« Er
    stand mit dem Rücken zu mir. »Habe ich ihr denn so weh
    getan?«
    Tja, ich habe wohl nur große Augen gemacht.
    »Wieder die Zunge verschluckt, Mr. Boles?«
    »Nein, Sir. Das ist keine leichte Frage.«

    »Sie hat mich wirklich gern gehabt. Ich habe es nur nicht
    gemerkt.«
    »Sie hat bestimmt viel Liebe gebraucht«, sagte ich. »Zuviel
    davon kann einen ganz schön mitnehmen.«
    Mister JayMac drehte sich um. »Als wüßtest du einen
    Fliegenschiß davon.«
    »Fliegenschiß – ich dachte, Sie hassen solche Reden.«
    »Ich schicke Euclid mit einem Ventilator, dieser
    Schwitzkasten könnte einen brauchen«, sagte er und zog die
    Tür des Schwitzkastens hinter sich ins Schloß. Ich hörte ihn
    die Stufen zum nächsten Absatz hinuntertrapsen.
    Etwa zwanzig Minuten später brachte Euclid einen
    Ventilator, der fünf Jahre älter war als das alte Modell von
    Henry.
    »Als Henry dir den Brief gegeben hat, wo ist er dann hin?
    Wie hat er ausgesehen? Weiß noch jemand davon?«
    »Nur Danbo.«
    »Okay, okay Das war nicht die einzige Frage.«
    Euclid kam allmählich in die Pubertät. Seine Kinnlade war
    breiter geworden, der Brustkorb fülliger. Er trug ein
    fadenscheiniges Leinenhemd, blanke Kniehosen mit
    aufgesetzten Werkzeugtaschen und schwere Schuhe. Er setzte
    den Ventilator an den Boden und stöpselte ihn ein.
    »Kam wie Räuber, als Detta Rae kellnern war«, sagte er.
    »Sagt, Brief für Danbo. Dann wieder fort.

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