Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)
nicht wie ein Name.
»Niemand?«, wunderte sich Avi und beugte sich vor. »Habe ich richtig verstanden?«
Hannah schlug die Augen auf. »Nemea«, verkündete sie lächelnd. »So heißt du, oder?«
»Keine Ahnung, was du meinst«, knurrte der Löwe.
»Nemea, Nemea, Nemea!«, wiederholte Hannah.
»Schon gut, ich gebe mich geschlagen. Mein Name ist Nemea. Wenn du mich fragst, war das eine ziemlich hinterhältige Methode, mich auszuhorchen.«
Im nächsten Moment entriegelte sich die Tür und schwang auf.
»Wie hast du das hingekriegt?«, fragte Avi beim Eintreten.
»Mir ist wieder eingefallen, dass ich hier im Feenreich Tiere beeinflussen kann«, erwiderte Hannah. »Der Löwe ist zwar aus Messing, aber trotzdem nur eine große Katze.«
Sie trafen McNemosyne auf einer großen Empore im obersten Stockwerk an. Regale waren umgekippt, und Bücher mit rotem Rücken bedeckten den Boden. Die Muse führte das Kommando über eine kleine Armee aus Wichteln, die mit Aufräumarbeiten beschäftigt waren.
»Was ist denn hier passiert?«, fragte Avi, während sie vorsichtig über die Bücher hinwegstiegen.
McNemosyne hatte das Haar zu einem überdimensionalen Dutt aufgesteckt, aus dem sie nun eine rosafarbene Brille zog. Als sie sie aufsetzte, verwandelte sich der Raum in eine ordentliche Bibliothek mit fein säuberlich bestückten Regalen. Sobald sie die Brille wieder abnahm, kehrte das Tohuwabohu zurück.
»Meine rosarote Brille«, meinte McNemosyne und schwenkte sie. »Ein Jammer, dass es nur Illusionen sind.«
»Wer war das?«, wollte Hannah wissen. »Es sieht hier aus wie nach einem Erdbeben.«
»Kobolde«, antwortete McNemosyne und betrachtete Hannah argwöhnisch. »Und ein gottverdammter Elf war auch dabei. Schaut, da liegt noch blauer Staub. Vor ein paar Tagen sind sie hier eingebrochen und haben kräftig einen draufgemacht. Zum Teufel mit diesen Vandalen. Wenn ich die in die Finger kriege!«
McNemosyne zog so heftig an ihrer Zigarette, dass eine Flamme emporzüngelte, und trat sie mit einer unwirschen Bewegung aus. Dann marschierte sie auf Avi zu und schaute ihm ins Gesicht. Ihr Haar war so hoch aufgetürmt, dass sie mit Dutt beinahe so groß war wie er, obwohl sie ihm kaum bis zum Nabel reichte.
»Genug gefragt«, sagte sie. »Jetzt möchte ich etwas von dir wissen: Was machst du hier, und was, bei allen Reichen, willst du?«
Avi holte tief Luft. »Vor einigen Monaten hast du mir mein Erinnerungsbuch gezeigt …«
»Richtig. Und du hast es verschlampt, obwohl du strikte Anweisung von mir hattest, es nicht aus der Bibliothek zu entfernen.«
»Ja. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie leid es mir tut.«
Der zunächst finstere Blick der Muse wurde versöhnlicher. »Schon gut … ich glaube dir. Und was führt dich heute hierher?«
»Ich würde mir gerne ein anderes Buch ansehen.« McNemosynes durchgehende Augenbraue hob sich bis zum Haaransatz. »Das von meinem Vater.«
Avi hielt den Atem an. Eigentlich rechnete er damit, dass sie ablehnen würde, erlebte jedoch eine Überraschung.
»Oren? Nun, du kannst es gerne lesen. Schließlich bist du sein Sohn.« Sie bohrte ihm den Zeigefinger in die Brust. »Allerdings muss ich wiederholen, dass wir keine Leihbücherei sind.« Bei jedem Wort stieß sie mit dem Zeigefinger zu. »Diesmal … bleibt … das … Buch … hier! Haben wir uns verstanden?«
»Jawohl«, entgegnete Avi.
»Also gut. Der Anfangsbuchstabe ›O‹ ist da drüben. Ich komme gleich nach.«
McNemosyne deutete auf eine Reihe von Regalen in einer dunklen Ecke der Empore und ging dann zu einem großen Schreibtisch, von dem aus sie den gesamten Raum überblicken konnte. Als sie an den anderen Musen vorbeikam, salutierten diese.
»Ein richtiger Dragoner«, raunte Hannah.
»Sie ist harmlos«, flüsterte Avi. »Obwohl ich das in ihrer Gegenwart lieber nicht aussprechen würde.«
Nachdem sie ihre Rucksäcke neben einem unbenutzten Schreibtisch abgestellt hatten, steuerten sie auf die Regale zu. Auf dem Weg dorthin passierten sie eine große Öffnung im Boden. Als sie sich über das gedrechselte Geländer lehnten, erkannten sie, dass sie vier Stockwerke tief durch das ganze Gebäude schauten. Es waren unzählige identische Emporen, aufeinandergestapelt wie die Schichten einer Torte. Avi wurde schwindelig, und er wich zurück.
»Diese Bibliothek existiert also in beiden Welten?«, erkundigte sich Hannah. »Warum können wir sie dann nicht benützen, um ins Reich der Sterblichen
Weitere Kostenlose Bücher