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Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)

Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition)

Titel: Brückenorakel Bd 2 - Weltenwanderer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fairchild
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fragte sich, ob das wohl der Tod war.
    Nach einer schieren Ewigkeit lichtete sich der Nebel ein wenig. Das Schiff schwankte hin und her, und Wasser zischte.
    Etwas klopfte backbord an den Rumpf. Kurz darauf war steuerbord ein Scharren zu hören. Ein Aufprall erschütterte den Kiel, so dass das Schiff einen Satz machte.
    Vor ihnen tauchten dunkle Umrisse, ein Wirrwarr aus Vierecken und Rechtecken, aus dem Nebel auf. Allmählich verfestigte sich das Bild, und zwar nicht, weil es näher kam, sondern weil es im Werden begriffen war und buchstäblich fassbar wurde.
    »Was ist das?«, flüsterte Hannah.
    »Was braucht man, um einen Fluss zu überqueren oder einen Abgrund zu überwinden?«, meinte Oren.
    »Wovon redest du?«, erwiderte Avi.
    Endlich trat das Bauwerk, klar und so schmerzlich vertraut, aus dem Dunst hervor. Eine steinerne Straße, gestützt von zahlreichen Bögen und von Hunderten von Häusern gesäumt. Einige ragten hoch und stolz empor, andere lehnten sich wie erschöpft aneinander. Darunter floss ein ruhiges Gewässer.
    »Eine Brücke«, beantwortete Oren seine eigene Frage.
    Und genau darum handelte es sich. Eine Brücke über einen Fluss, die so vielen Gebäuden Heimat bot, dass sie praktisch eine kleine Stadt für sich war.
    Die London Bridge.
    Sie waren wieder zu Hause.

Kapitel 30
    N ach dem trügerischen und verworrenen Déopnes war Avi nicht sicher, ob er seinen Augen trauen durfte. Doch mit jedem zurückgelegten Meter wuchs seine Hoffnung, denn alles sah genau so aus, wie er es in Erinnerung hatte.
    Etwa in der Mitte der London Bridge war ein Gewirr aus hölzernen Plattformen und Strickleitern angebracht. Das Schiff aus dem Déopnes glitt sanft in diesen provisorischen Hafen und bewegte sich so langsam, dass Avi es kaum spürte, als es an die Kante stieß.
    Plötzlich rannte Oren los, ruderte dabei mit den Armen und rief wirres Zeug.
    Verdattert griff Avi nach Hannahs Hand. »Komm. Sonst verschwindet er uns noch.«
    Oren huschte wie ein Seiltänzer über den Bugspriet und kletterte die nächstbeste Leiter hinauf. Avi und Hannah folgten. Da Avi sich seltsam geschwächt fühlte, verließen ihn, oben angelangt, beinahe die Kräfte, so dass er Mühe hatte, die Beine über die Brüstung zu schwingen. Oren steuerte auf das andere Ende der Brücke zu, aber Avi hielt ihn am mageren Handgelenk fest.
    »Wir gehen in diese Richtung«, verkündete er mit Nachdruck und deutete auf die Chapel of Saint Thomas, die im Nebel nur mit Mühe auszumachen war.
    Als hinter ihm ein Ächzen und Knacken ertönte, drehte er sich um.
    Avi beugte sich über die Brüstung und stellte fest, dass sich auf dem Schiff etwas bewegte, so als wimmelte eine Armee von Ameisen an Deck herum. Sie ließen nichts übrig. Bohle für Bohle und Tau für Tau schien sich das Schiff in Luft aufzulösen. Die beiden verbliebenen Masten schrumpften auf Streichholzgröße, wurden schwarz und zerbröckelten zu Staub. Der Rumpf versenkte sich selbst im Wasser und ging mit einem Blubbern unter. Avi beobachtete, wie die Trümmer verschwanden.
    »Gut, dass das nicht passiert ist, als wir in der Nähe des Strudels waren«, meinte Hannah.
    »Was für ein Strudel?«, entgegnete Avi.
    Hannah versetzte ihm einen Rippenstoß. »Veräppeln kann ich mich selber.«
    Verwirrt rieb Avi sich die Stirn. »Ich veräpple dich nicht. Wovon redest du?«
    »Der Strudel? Der Sturm? Du erinnerst dich doch bestimmt noch an die Insel und die grausigen Gesichter im Wasser.«
    Doch in Avis Kopf war alles verschwommen. Das Letzte, was er klar im Gedächtnis hatte, war sein Sprung ins Schweigende Tor. Außerdem standen ihm noch undeutliche Bilder von einem Traum vor Augen, in dem er gefallen war. Aber danach … Leere. »Ich habe es wirklich vergessen«, murmelte er. »Es ist alles weg.«
    »Tatsächlich alles? Soll das heißen, dass ich den ganzen weiten Weg gekommen bin, um dich zu retten, und du erinnerst dich nicht daran?«
    »Du hast mich gerettet?«
    Hannah schüttelte den Kopf. »Wieder Gedächtnisschwund, genauso wie schon einmal.«
    »Das mit dem Gedächtnisschwund stimmt. Aber jetzt ist es anders.«
    Jeden Tag bedauerte Avi aufs Neue, dass ihm sämtliche Erinnerungen an seine Kindheit fehlten, und er sehnte sich nach einer Möglichkeit, sich seine verlorene Vergangenheit zurückzuerobern. Aber sein jetziges Gefühl unterschied sich sehr davon, denn zum ersten Mal war er froh, etwas vergessen zu haben.
    »Ist alles in Ordnung, Avi?«, fragte Hannah.
    »Por-pet-pop«,

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