Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Verleihung des Friedensnobelpreises für die Europäische Union wurde ein Bürgerfest gefeiert. Das fand vor ein paar Tagen in der großen Aula der Schule statt – und der Laden war voll. Eingeladen wurden auch die beiden Bürgermeister der Partnergemeinden in Italien und Frankreich, die gekommen sind und gesprochen haben. Dann haben Kinder gesungen, und der evangelische Pastor hat Persönliches zu Europa gesagt, er ist mit einer Französin verheiratet. Ich habe auch einen Part übernommen und die Gäste willkommen geheißen: »Ich begrüße Sie als europäische Deutsche, als europäische Franzosen und als europäische Italiener. Diese Gemeinde ist einzig, denn die Großkopferten der Europäischen Union haben sich in Oslo versammelt. Aber wir als Bürger feiern Europa hier in Wachtberg.« Alle waren begeistert über die Idee dieser Feier. So geht es doch auch.
LINDNER
Ich hake dennoch nach. Befördert wird eine Distanz zum europäischen Projekt selbst bei denen, die im Prinzip europäisch denken, durch den Eindruck, es tauschten sich nur noch Eliten mit pathetischen Formulierungen und Rückgriffen auf die Geschichte untereinander über Europa aus, aber die realen Aufgaben würden nicht klar genug angesprochen. Dann heißt es, die Öffentlichkeit werde mit leeren Formeln beschwichtigt. Ich meine, wir sollten die Debatte offensiver führen. Das geeinte Europa ist längst unser Alltag: Europa ist das zollfreie Paket aus Paris, Europa ist die Reise ohne Schlagbaum und Geldumtausch nach Lissabon, Europa ist das Studium in Rom, Europa ist der Job in Warschau – Europa ist unser Leben. Wer wollte darauf verzichten? Pässe an der Grenze zeigen, Geld wechseln, Formalitäten beim Auslandsstudium oder dem beruflichen Auslandsaufenthalt, Besuche beim Zoll – wer will das zurück? Weil das alles inzwischen vielleicht zu selbstverständlich genommen wird, gibt es nur wenig Begeisterung. Im Gegenteil – deutschtümelnde Formeln garantieren schnellen Applaus.
GENSCHER
Ich fürchte, dass die aktuelle Diskussion über die Schuldenkrise in Europa wohl in allen Ländern den Skeptikern und den Rückwärtsgewandten, die die Sache unter vermeintlich nationalen Gesichtspunkten sehen, zu viel Raum gelassen hat. Eine offensive Diskussion über Ursachen und nötige Konsequenzen fand lange nicht statt. Ja, Sie haben recht: Fast wurde sogar beschwichtigt.
LINDNER
Speziell bei uns gibt es ein Gefühl, Europa sei gewonnen, und jetzt könnten wir gefahrlos exklusiv unsere deutschen Interessen vertreten. Offensiv wird ja tatsächlich auch nicht erklärt, dass und wofür und welches Europa wir zukünftig brauchen. Die Bundeskanzlerin hat zwar gesagt, dass Europa scheitere, wenn der Euro scheitere – aber das wurde nach meinem Eindruck nicht ernst genug genommen, sondern teilweise sogar als Übertreibung abgehakt.
GENSCHER
Ich wünsche mir wie Sie eine offenere, aber auch im Sinne einer gemeinsamen europäischen Verantwortung geführte Diskussion. Darauf kommt es nach meiner Meinung an, wenn wir dieses Europa wieder mit der Popularität versehen wollen, die es am Anfang einmal gehabt hat. Was nicht voll entwickelt ist, ist die Fähigkeit, europäisch zu denken. Wir erleben tatsächlich einen Rückfall, und das wird besonders deutlich, wenn nationale Interessen in einen vermeintlichen Gegensatz zu europäischen Interessen gesetzt werden. Kann ich für die Deutschen eine Zukunft in Frieden und Wohlstand erhoffen, wenn die Franzosen und die Polen sie nicht erwarten können? Oder muss ich Europa nicht in seiner Zukunftsperspektive europäisch denken, und zwar in jeder Hinsicht? Heißt es: wir in Europa, oder heißt es: wir in Deutschland? Das ist entscheidend. Ich vermisse den permanenten Hinweis darauf, dass es um das europäische Schicksal geht.
LINDNER
Es gibt den zuspitzenden Satz, Deutschland sei zu groß für Europa, aber zu klein für die Welt. Der britische Politologe Colin Crouch hat in diesem Zusammenhang neulich in einem bemerkenswerten Zeitungsbeitrag darauf aufmerksam gemacht, dass die durch Finanzmärkte und das Internet globalisierte Zivilisation in Netzwerken gestaltet wird. In diesen Netzwerken spielten einzelne europäische Nationen nur eine nachgeordnete Rolle, aber Europa gemeinsam könne nachhaltig Einfluss ausüben. Dieser Text war an die Europa-Skeptiker in Großbritannien adressiert, aber er lohnt sich auch für deutsche Leser.
GENSCHER
Diese Formel, Deutschland sei zu groß für Europa, aber zu klein für die
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