Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Strategie und des Stils – das hatte ich mir nach der Berliner Erfahrung geschworen. Deshalb war mir wichtig, auch den Landesvorsitz zu beanspruchen, damit ich als Spitzenkandidat bereits im Wahlkampf auf Augenhöhe mit den Wettbewerbern agieren konnte. Das war in diesem Gespräch dann gegen 19 : 45 Uhr meine Bedingung. Ich habe großen Respekt davor, dass Daniel Bahr nach wenigen Minuten Bedenkzeit zugestimmt hat. Das war ein Beispiel für Fairplay.
GENSCHER
Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich den Anruf erhielt: »Lindner macht es!« Zum Wahlparteitag war ich nach Neuss gekommen, um mich auch öffentlich und klar zu Ihnen zu bekennen. Zu meiner Frau, die mich fragte, ob das nach dem Eingriff am Herzen sein müsse, sagte ich: »Der kann kämpfen, und dass ich das so sehe, will ich dort sagen. Denn das beeindruckt mich: Dass er die Verantwortung für diese wichtige Wahl in NRW übernahm, als die Partei bei zwei Prozent stand. Dem geht es um die Sache – und das sollen die Leute wissen.«
LINDNER
Entscheidend für den späteren Wahlerfolg war, dass wir »Lieber neue Wahlen als neue Schulden« plakatieren konnten. Das hat finanzpolitische Solidität zu einer Frage der Haltung, zu einer Charakterfrage gemacht. Für mich war das eine Prioritätenverschiebung der FDP : Erst muss der Staat raus aus den Schulden, dann kann man über neue Aufgaben für den Staat oder an sich wünschenswerte Entlastungen nachdenken. Das wurde von Beobachtern als überfällige Selbstkorrektur der FDP , als Einsicht in das ökonomisch Sinnvolle wahrgenommen. Daneben haben wir uns thematisch verbreitert – eine unideologische Bildungspolitik mit fairen Chancen auch für das von Rot-Grün vernachlässigte Gymnasium, eine stärker marktwirtschaftlich organisierte Energiewende, Verteidigung bürgerlicher Freiheiten gegen eine gouvernantenhafte Verbotspolitik. All das war ein neues Denken, das wir für die FDP reklamiert haben. Jetzt müssen wir daran arbeiten, dieses Denken über Nordrhein-Westfalen hinaus zu verbreitern.
GENSCHER
Wissen Sie, vor einem Jahr standen Sie auf dem Prüfstand. Gewogen und bestanden! Das bedeutet Anerkennung und Respekt, aber – Herr Lindner – es ist auch Verpflichtung. Die Partei braucht Sie. Im Land: als Vorsitzenden von Partei und Fraktion. Aber auch in der Verantwortung in der Führung der Bundespartei. Es ehrt Sie, dass Sie zu Ihrer Zusage stehen: Mein Platz ist in Nordrhein-Westfalen. Das schließt Mitverantwortung im Bund nicht aus, sondern angesichts des Gewichts von Nordrhein-Westfalen ein. Der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende war eigentlich stets stellvertretender Bundesvorsitzender.
Für mich ist die liberale Partei mehr und mehr politische Heimat geworden. Und auch ein Teil meiner persönlichen Identität. Dankbar empfinde ich, wie viel mir die Partei gegeben hat. Ich habe stets versucht, zurückzugeben. Oft auch zulasten meiner Familie. Meine Mutter, meine Frau und meine Tochter haben es nicht unternommen, mich zurückzuhalten, obwohl sie oft und meist zu Recht die Grenzen deutlicher gesehen haben als ich selbst. Die innere Verbundenheit mit der liberalen Partei lässt mich auch heute nicht los. Ich freue mich mit ihr, und ich leide mit ihr. Wenn ich mich auch jetzt noch in der einen oder anderen Weise engagiere, dann eben, weil mir die liberale Sache so viel bedeutet. So wird es wohl auch bleiben.
Zukunftswerkstatt Europa
LINDNER
Herr Genscher, wir haben bei unserem letzten Treffen über unsere persönliche Geschichte gesprochen. Sie haben erzählt, wie der Zweite Weltkrieg ihr Leben geprägt hat. Europa ist seit mehr als 60 Jahren ein Garant für Frieden. Wenn aber heute von Europa die Rede ist, dann fast nur im Zusammenhang mit Krisen und Rettungspaketen. Europa, das sind für viele die Fernsehbilder der Gipfeltreffen, an die danach von Beobachtern ein Preisschild geklebt wird, wie viel Geld Deutschland nun beizusteuern habe. Ich stelle darüber eine gewisse Europamüdigkeit fest, auch in meiner Generation. Sie sprechen nach wie vor bei zahllosen Veranstaltungen über Europa. Ist auch Ihr Eindruck, dass es wenige Begeisterte, mehr Kritische und viele Desinteressierte gibt?
GENSCHER
Man muss immer wieder neu für die europäische Idee werben, insofern gebe ich Ihnen recht. Ich glaube aber nicht, dass die Leute sich generell abwenden, Herr Lindner. In meiner Gemeinde in Wachtberg mit 20 000 Einwohnern habe ich gerade erlebt, wie es gehen kann. Anlässlich der
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