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Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Titel: Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Lindner , Hans-Dietrich Genscher
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Welt, ist zutreffend. Selbst wir als das größte Mitgliedsland würden tatsächlich nicht in der Lage sein, in einer zusammenwachsenden Weltordnung unsere Interessen zu vertreten. Es ist ein Denkfehler zu meinen, die deutschen Interessen seien besser wahrzunehmen, wenn das notfalls auch zulasten der polnischen oder französischen Interessen geschehe. Wenn wir nach der Sinnbestimmung der europäischen Einigung fragen, bleibt dennoch immer auch die friedenssichernde Funktion. Sie ist die Antwort auf die Irrwege der europäischen Geschichte mit ihren zahlreichen Bruderkriegen und den beiden Weltkriegen des 20 . Jahrhunderts.
    LINDNER
    Sicher. Wie die gegenwärtigen Interessengegensätze und ökonomischen Ungleichgewichte in Europa vor 80  Jahren aufgelöst worden wären, darüber will man gar nicht phantasieren. Insofern ist Europa ohne Zweifel ein zivilisatorischer Fortschritt. Allein für Jahrzehnte Frieden hätte es sich bereits gelohnt. Dennoch, Herr Genscher, ist dieses Motiv heute keine allein tragende Zweckbestimmung mehr. Ich wage die Behauptung: Von den Jüngeren kann sich niemand mehr vorstellen, dass von Deutschland aus Panzer nach Frankreich oder Polen rollen.
    GENSCHER
    Wieso empfinden beispielsweise Sie persönlich das Friedensmotiv nicht so stark?
    LINDNER
    Ich will es so sagen: Für meine Großeltern war Europa Frieden, für meine Eltern war Europa Wohlstand, für mich ist Europa Freiheit. Meine Kommilitonen waren im Erasmus-Programm überall in Europa. Ich selbst war ein Jahr lang fast jedes dritte Wochenende in Rom bei meiner damaligen Freundin, die dort studiert hat. Wir saßen dort an einem Tisch mit Studierenden aus ganz Europa und haben als Selbstverständlichkeit erlebt, ohne dass es ausgesprochen werden müsste: Die hören die gleiche Musik, die haben die gleichen Vorstellungen, die gleichen Ängste, die gleichen Hoffnungen. Einige Kontakte blieben bis heute, wenn auch nur auf
Facebook
. Das ist mein Bild des geeinten Europas: eine Gemeinschaft, die im täglichen Leben wächst, die einen politischen Rahmen für im Alltag gefundene Gemeinsamkeiten braucht. Ich will mit meinem eigenen Erleben gar nicht ausschließen, dass es in der Zukunft scharfe Auseinandersetzungen in Welthandelsfragen oder andere Formen der Rivalität geben könnte, wenn wir nicht durch Europa verbunden wären. Es gibt in Deutschland schließlich auch wieder Klagen gegen den Länderfinanzausgleich. Aber das ist ein anderer Charakter von Konflikt, als Sie ihn als Kriegsteilnehmer noch erlebt haben. Deshalb reicht das Friedensmotiv als Argument allein nicht mehr aus. Man muss unterstreichen: Europa ist unser gemeinsamer Lebensstil, unser
way of life
 – und es ist eine langfristig lohnenswerte Investition.
    GENSCHER
    Fairerweise muss man hinzufügen, dass die Euphorie der Deutschen beim Entstehungsprozess der Europäischen Gemeinschaft besondere Gründe hatte. Uns erlaubte die Einladung, an der Gründung der Europäischen Gemeinschaft teilzunehmen, die Rückkehr an den Tisch der zivilisierten Völker. Das erklärt auch die gänzlich andere Haltung. Für Engländer kam die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft dem Ende des Weltreiches gleich, sie besiegelte dieses Ende. Für die Deutschen bedeutete es die Wiedereinbürgerung, wenn Sie so wollen, in die Demokratien dieser Welt. Das ist der Unterschied. Das heißt, wir sind auf unterschiedlichen Wegen an diesen europäischen Tisch gekommen.
    Aber Sie haben es eben schon mit dem Verweis auf den britischen Politologen angesprochen: Die Gründerväter der europäischen Einigung konnten nicht wissen, dass sie mit der Europäischen Union auch eine Antwort auf die Globalisierung unserer Zeit geben würden. Es entsteht eine vollkommen neue Weltordnung, in der alle näher zusammenrücken und in der große Einheiten das Geschehen bestimmen. Aufgabe der Politik, aber auch der Eliten, müsste es sein, darauf hinzuweisen, dass dieses Europa bei der Gestaltung der neuen Weltordnung seine Verantwortung wahrzunehmen hat. Ich bin einmal in einer Veranstaltung danach gefragt worden, ob wir unsere Werte und Interessen nicht alleine besser vertreten könnten. Ich habe dann eine Rückfrage zu den letzten Olympischen Spielen in London gestellt: »Haben Sie es bedauert, dass wir nicht mehr Goldmedaillen errungen haben?« – »Ja«, hieß es. »Wieso?«, habe ich dann gefragt: »Die Chinesen hatten 38 , die Amerikaner hatten 46 , aber wir Europäer hatten 92 .« Wenn wir uns unter diesem

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