Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
die Mitgliedsstaaten mit Euro und ohne Euro; zweitens in die Länder, die Solidarität üben, und jene, die auf Solidarität angewiesen sind; und drittens sehe ich Staaten, die rasch auf mehr Gemeinsamkeiten drängen, und wieder andere, die dieses Tempo nicht mitgehen können oder wollen. Hier könnten sich Fliehkräfte entwickeln.
GENSCHER
Wenn Sie sich einmal vor Augen führen, wie weit der Integrationsprozess seit Gründung der europäischen Gemeinschaft fortgeschritten ist, welche Hürden bereits überwunden worden sind, dann bin ich davon überzeugt, dass die europäische Staatskunst auch diese Probleme meistern kann. Sie dürfen nie vergessen, Herr Lindner: Der historische Prozess der europäischen Einigung ist ein Novum in der Menschheitsgeschichte, er ist ohne jedes Beispiel.
LINDNER
Dennoch hat sich ein Europa der mindestens zwei Geschwindigkeiten gebildet. Manche wollen das sogar weiter institutionalisieren, wenn ich zum Beispiel an den Vorschlag nach einem Parlament der Euro-Mitgliedsstaaten denke. Ich bin nicht gegen eine differenzierte Zusammenarbeit – im Gegenteil kann es ja sogar sinnvoll sein, wenn einzelne Staaten in bestimmten Fragen vorangehen. Deutschland und Frankreich arbeiten beispielsweise an einer Harmonisierung der Körperschaftsteuer. Bedenken hätte ich allerdings, wenn es zu einer exklusiven Clubbildung innerhalb Europas käme.
GENSCHER
Ein Einigungsprozess kann nicht durch Gleichschaltung und Zwang funktionieren, das hat uns die Geschichte gelehrt. Wir müssen daher die unterschiedlichen Geschwindigkeiten als Teil des Prozesses sehen – sie haben beim Schengen-Abkommen ebenso existiert wie bei der Einführung des Euro. Wichtig ist, dass jedem Mitgliedsstaat grundsätzlich eine Teilnahme offensteht. Fliehkräfte entstehen nur dann, wenn sich diejenigen, die bereits vorangegangen sind, als geschlossene Gesellschaft verstehen und agieren.
LINDNER
Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang Großbritannien und die Rede von Premierminister Cameron zur EU ?
GENSCHER
Ich gehörte von Anfang an zu den energischen Befürwortern einer EG -Mitgliedschaft Großbritanniens. Ich habe in meiner Amtszeit engagierte Europäer als Premierminister und als Außenminister getroffen. Aber ich habe auch Margaret Thatcher erlebt. Sie ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Zu ihren historischen Verdiensten gehört die Modernisierung Englands. Das hat die Wettbewerbsfähigkeit Großbritanniens neu begründet. Margaret Thatcher stand aber mit einem Bein noch in der Vergangenheit. Sie hatte die politische Bedeutung der europäischen Einigung nicht erkannt. Ihr Widerstand gegen die deutsche Vereinigung war ein Ausdruck alten Denkens. Die Devise »teile und herrsche« war als politische Handlungsanleitung Vergangenheit. Den europäischen Einigungsprozess hat sie behindert. Den Versuch, das auch im Ost-West-Verhältnis zu erreichen, unter anderem mit einer Kurzstreckenraketenrüstung zur Unzeit, haben wir 1989 gottlob ausbremsen können.
Fast hat man den Eindruck, der jetzige Premierminister wolle noch einmal den Versuch eines Europa à la carte unternehmen. Ich bin der Auffassung, dass es das gemeinsame Bemühen sein sollte, Großbritannien in der EU zu halten, aber von Anfang an in einem Punkt Klarheit zu schaffen: Ein Preis wird nicht gezahlt werden, das ist der Preis, der Euro heißt, das ist der Preis der fortschreitenden Integration und der Fit-Machung Europas für die Zukunft. Wenn es Cameron allein um die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit gehen sollte, dann sollte er Deutschland an seiner Seite haben.
Die kommenden Jahre werden zeigen, dass in Großbritannien eine Debatte über den künftigen Standort beginnt. Sieht Großbritannien seine Zukunft in der EU ? Sieht es diese Zukunft im Alleingang, oder sieht es diese Zukunft in einer immer engeren Verbindung mit den USA ? Diese Debatte wird auch ausstrahlen auf die inneren Probleme Großbritanniens, das heißt auf die Autonomiebestrebungen, die an Intensität zunehmen werden. Um es noch einmal zu sagen: Von ganzem Herzen wünsche ich England in der EU . Aber ein Opfer, das da heißt Stillstand oder Rückschritt in der europäischen Vereinigung, kann und darf es nicht geben. Dieser Preis wäre zu hoch. Und in London sollte man auch erkennen, dass die britischen Autonomieprobleme nicht zulasten Europas gelöst werden können.
LINDNER
Ich war zuletzt im Dezember vergangenen Jahres in London, um dort den britischen Vizepremierminister Nick Clegg
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