Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
vorgenommen hat: die Stabilitätsunion Europa zu schaffen. Das bedeutet, den Stabilitätspakt einzuhalten in allen seinen Teilen, mit allen Regeln, ihn gleichzeitig zu verstärken – das ist der nächste Schritt. Dass es gelungen ist, im Fiskalvertrag Schuldenbremsen für alle Staaten der Eurozone zu verankern, ist ein großer Erfolg der deutschen Europapolitik. Aber es sollte nun weitergehen. Im Kern geht es darum, dass wir die Wirtschafts- und Finanzpolitik auf das engste und immer weiter zusammenführen. Das bedeutet auch Abgabe von Zuständigkeiten an die europäischen Institutionen.
LINDNER
Da ist die Frage: welche?
GENSCHER
Während der zweiten Großen Koalition 2005 bis 2009 ging es zum Beispiel um die Frage, ob die Europäische Kommission das Recht erhalten solle, sich zu den Haushalten der nationalen Staaten zu äußern. Das ist damals von Deutschland abgelehnt worden mit dem Hinweis – und darin waren sich alle Europagegner einig, unbedarfte Europabefürworter haben das mitunterstützt –, dass die Rechte des Deutschen Bundestages nicht eingeschränkt werden dürfen. In Wahrheit hätte man folgendermaßen argumentieren müssen: Wenn die Kommission von solchem Recht Gebrauch macht und Stellung bezieht zu nationalen Haushalten, muss das Europäische Parlament die Kommission dabei kontrollieren können. Das wäre die richtige Antwort gewesen. Schade, dass es dazu nicht früher gekommen ist.
LINDNER
Wolfgang Schäuble hat das ja erneut in die Diskussion gebracht. Die ablehnenden Reaktionen in Deutschland haben mich überrascht, muss ich sagen. Mit den starken Wettbewerbskommissaren gibt es ja positive Erfahrungswerte. Märkte sind geöffnet und liberalisiert, verzerrende Subventionen sind reduziert worden. Das hat manche Landesregierung in der Vergangenheit zugegebenermaßen geärgert, gerade hier in Nordrhein-Westfalen kann man im Zusammenhang mit der West LB ein Lied davon singen. Dennoch ist die Bilanz für Europa und auch für Deutschland positiv. Für mich ist das eines der erfolgreichsten Gebiete europäischer Politik überhaupt. Das nun auf das Feld der Währungspolitik zu übertragen, ist für mich eine sinnvolle Ergänzung des Fiskalvertrags. Der Währungskommissar sollte nicht das Recht erhalten, die Struktur der öffentlichen Haushalte in einem Euro-Mitgliedsstaat zu bestimmen – also beispielsweise uns Deutschen Steuererhöhungen vorzugeben. Damit würde man die Haushaltssouveränität der nationalen Gesetzgeber entkernen. Dann wären auch Bedenken gerechtfertigt, ob diese Beschneidung der Rechte des Deutschen Bundestages mit dem Grundgesetz vereinbar wäre. Dafür sähe ich keine Mehrheit, nirgendwo. Das steht aber auch gar nicht zur Debatte. Der Währungskommissar ist Anwalt der Währungsstabilität – und muss in der Konsequenz Anwalt stabiler Staatsfinanzen sein. Er hätte auf das Defizit per saldo in den einzelnen Haushalten zu achten. Er würde in dieser Hinsicht die Zentralbank von tagespolitischen Äußerungen entlasten, die eigentlich nicht zu deren Auftrag gehören sollten. Nötigenfalls muss er einen Etatentwurf zurück in ein Parlament verweisen können, wenn es gegen die Stabilitätskriterien verstößt. Mittelbar hätte das sicher Auswirkungen auf die Sozial- und Steuerpolitik in Europa. Aber wollen wir da nicht zu einer Konvergenz zumindest der Kennzahlen kommen? Ist das nicht sogar ein Kernanliegen der Deutschen? Warum also diese Skepsis bei uns, wenn es ernsthaft darum geht, dem Stabilitäts- und Wachstumspakt in Europa Zähne zu geben?
GENSCHER
Von den Gegnern solcher Schritte wird bis heute gern das Verteidigungsargument zum Schutz des Status quo benutzt, das heißt »die Rechte des Deutschen Bundestages dürfen nicht ausgehöhlt werden!«. Und wenn man bedenkt, dass aus Karlsruhe Reden zu hören sind, wonach das Grundgesetz »Europa-offen« sei, dann weiß man schon, woher der Wind weht: Ich fürchte, das Grundgesetz wird nicht verstanden. Wir sind nicht nur Europa-offen, sondern wir sind Europa verpflichtet, das ist ein großer Unterschied. Die erste Forderung muss deshalb sein, die Rechte des Europäischen Parlaments zu stärken. Vollkommen klar muss sein, dass die parlamentarische Kontrolle politischer Entscheidungen nicht geringer wird. Die Frage ist aber nicht davon abhängig, wo sie stattfindet – ob in Berlin oder in Brüssel. Das Europäische Parlament ist vom demokratischen Gedanken heraus dem Deutschen Bundestag ebenbürtig. Wenn ich eine
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