Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Zuständigkeit an die Union übergebe, muss sie auch bei der Union parlamentarisch kontrolliert werden.
LINDNER
Und es muss den Rechtsweg vor einem Europäischen Gerichtshof geben, so wie das in jeder Föderation möglich ist.
GENSCHER
Wie es bei uns auch möglich ist. Wir verkürzen nicht die parlamentarische Kontrolle, aber es kann in einem zusammenwachsenden Staatenverbund keine Schranke geben, die eine parlamentarische Kontrolle ausschließt.
LINDNER
Ich will noch einmal einen Schritt zurück und auf die konkreten Konsequenzen aus der Eurokrise zurückkommen. Es gibt grundsätzliche Kritik an der bisherigen Strategie. Henry Kissinger hat beispielsweise in einem Interview Ende 2012 gesagt: »Was mich beunruhigt: Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, wie man durch eisernes Sparen Wachstum schaffen kann.«
GENSCHER
Das sagt nicht nur Kissinger, so lautet auch ein innenpolitischer Vorwurf, den die Opposition der Regierung macht. Aber man darf nicht übersehen, was in Europa allein mit den Fonds aus Brüssel verteilt wird. Das ist nicht wenig. Die Strukturreformen sollen nicht nur dazu beitragen, zu sparen und Schulden abzutragen in den betroffenen Ländern, sondern es geht zum Beispiel auch darum, diese EU -Mittel wachstumsfördernd einzusetzen. Man kann nicht sagen, dass die Bundesregierung Austeritätspolitik predige, aber Haushaltsverantwortung ist schon geboten und solide Staatsfinanzen sind es auch.
LINDNER
Der Vorwurf, Deutschland dränge auf eine bestimmte Lösungsstrategie, ist dennoch ernst zu nehmen. Das Narrativ, dass Deutschland für Ordnung in Europa sorgt, ist auf Dauer schädlich und hat auch nicht die gewünschten Ergebnisse. Thomas Mann hat ja sehr treffend vom »europäischen Deutschland« im Gegensatz zu einem »deutschen Europa« gesprochen. Wir müssen also unsere Verantwortung wahrnehmen, ohne dass uns Dominanzansprüche vorgeworfen werden können. Säbelrasseln führt nur zur Frontbildung. Wir können unserer geschichtlichen Verantwortung nicht entfliehen, deshalb gelten für uns nach wie vor andere Benimmregeln auf dem internationalen Parkett und in Europa. Bestimmte Ressentiments gegenüber Deutschland oder auch Ressentiments im Land gegenüber europäischen Partnern sind noch nicht vollständig überwunden, und deshalb kann Deutschland nicht auftreten als Lehrer oder Aufseher über unsere europäischen Partner.
GENSCHER
Niemand kann in einem Europa der Gleichberechtigung und der Ebenbürtigkeit der Völker als Lehrer oder als Aufseher auftreten. Es geht um Partnerschaft und nicht um Vorherrschaft. Auch wenn Vorherrschaft in »netter Form« gemeint sein sollte. Die deutsche Verantwortung in und für Europa hat auch nicht nur ihre Wurzel in den Verbrechen des Dritten Reiches. Die deutsche Verantwortung ergibt sich aus der Größe unseres Landes, aus seiner geographischen Lage und aus seiner Stärke. Die Folge der Verbrechen Hitlers ist es und wird es bleiben, dass wir in besonderer Weise den Charakter einer Gemeinschaft von gleichberechtigten und ebenbürtigen Völkern Rechnung zu tragen haben. Ich denke, dass uns das bisher durchaus gelungen ist. Ich weiß aber auch, dass diejenigen, die Deutschland eine Rückwendung zu einer Politik vermeintlich nationaler Interessen veranlassen wollen, neues Misstrauen schüren. Das ist das Gefährliche an diesen Aktivitäten. Oft ist es schon die Sprache, die, nach allem, was war, bei unseren Nachbarn alte Fragen neu belebt.
LINDNER
Mit dem gebotenen Fingerspitzengefühl muss man dennoch an die Ursachen der Krise heran, nicht an die Symptome. Ich sehe das Problem der Austerität: Griechenland kann gegenwärtig nicht an die Kapitalmärkte zurückkehren, weil Reformen und Einsparungen zu einer massiven Binnenrezession geführt haben, die wiederum das Staatsdefizit belastet. Das ist das Problem der in einem gemeinsamen Währungsraum nötigen internen Abwertung, die ohne schmerzhafte Haushalts- und Lohnkürzungen nicht zu realisieren ist. Nur: Das in die andere Richtung zu versuchen, also durch europäische Ausgabenprogramme und Strohfeuer-Effekte, wird nicht sinnvoll sein. Es wird ohne Reformen nicht gehen. Wir können dabei auf unseren eigenen Weg verweisen. Schließlich waren wir vor einigen Jahren noch der »kranke Mann Europas«, bevor wir unsere Wettbewerbsfähigkeit durch die Agenda-Politik verbessert haben. In Südeuropa und auch in Frankreich sind beispielsweise die Arbeitsmärkte völlig inflexibel. Ein Arbeitsgerichtsprozess in
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