Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
zu treffen. Er spricht übrigens unter anderem Deutsch, was bereits für sich genommen ein Beleg für seine europäische Orientierung ist. Die Liberaldemokraten waren bei meinem Besuch sehr in Sorge vor der Rede Camerons, weil sie eine gegen Europa gerichtete Wende vermutet hatten. Ich muss sagen, dass ich einige Punkte der Rede für geeignet halte, eine Klärung über Großbritannien hinaus zu erreichen. Man muss Cameron ja zustimmen, dass Europa mehr Wettbewerbsfähigkeit, mehr Subsidiarität und mehr Demokratie benötigt.
Jetzt müssen wir auch über Frankreich sprechen. Wie beurteilen Sie die besonderen deutsch-französischen Beziehungen? Mit dem neuen Präsidenten Hollande hat sich der Kurs des Landes erheblich verändert … Von den ökonomischen Kennzahlen her ist unser Nachbar eher südeuropäisch. Der neue Außenminister sprach in einem Interview neulich recht kühl vom deutsch-französischen Verhältnis. Das hat mich irritiert.
GENSCHER
Da traf es sich gut, dass wir am 22 . Januar den fünfzigsten Jahrestag der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages gemeinsam mit unseren französischen Freunden in Berlin begehen konnten. Die Reden, die dabei gehalten wurden, waren deshalb so beeindruckend, weil sie auf Deklamationen weitgehend verzichteten, weil sie sehr realistisch waren und deshalb auch glaubwürdig. Da wurde ganz deutlich: Ja, wir gehören zusammen: wir, die europäischen Deutschen; wir, die europäischen Franzosen. Offen gesagt, ich hätte mir gerade an diesem Tag auch eine Hinwendung gewünscht nach Osten. Genauer gesagt, nach Warschau. Zu unserem großen Nachbarn Polen. Vielleicht wären sie ja dabei gewesen, die Polen – damals, vor 50 Jahren. Wenn ihnen nicht die sowjetische Vorherrschaft ihr System aufgezwungen hätte und ihre Außenpolitik auch.
Die deutsch-französische Freundschaft ist essenziell. Sie kann ihre volle Wirkung aber auf Dauer nur entfalten, wenn auch das große polnische Volk, das im 20 . Jahrhundert unendlich gelitten hat und das für die Freiheit der Völker im sowjetischen Machtbereich so unendlich viel getan hat, Teil der deutsch-französischen Partnerschaft – ganz im Sinne des Weimarer Dreiecks – wird.
LINDNER
Ich will die deutsch-französischen Beziehungen noch einmal vor dem Hintergrund der Entwicklung in Großbritannien hervorheben. Wenn es eine Debatte über Reformen der Europäischen Union gibt, dann kommt einer Verständigung von Deutschland, Frankreich und Großbritannien eine besondere Rolle zu. Nicht allein wegen der Größe, sondern weil alle drei unterschiedliche Leitbilder und Interessen vertreten. Wenn es gelingt, hier zu einem Konsens zu finden, dann hätte er eine Prägekraft für die gesamte EU .
GENSCHER
Mit dieser Vorstellung werden Sie der Besonderheit der deutsch-französischen Beziehung nicht gerecht, sie ist und bleibt herausragend in ihrer Bedeutung und lässt sich deshalb nicht einebnen, lieber Herr Lindner. Natürlich ist offenkundig, dass in wichtigen Fragen der Haushalts- und auch der Handelspolitik große Übereinstimmungen zwischen Frankreich, Deutschland und Großbritannien bestehen. Dennoch hat das deutsch-französische Verhältnis für Europa ein besonderes Gewicht. Das hat Winston Churchill schon 1946 in seiner berühmten Rede in Zürich deutlich gemacht.
LINDNER
Die deutsch-französischen Beziehungen will ich gar nicht relativieren. Mir geht es nur um ein Gesprächsformat, in dem über Europas Zukunft gesprochen werden kann. Ihren Hinweis auf Churchill will ich aber noch in anderer Hinsicht aufnehmen: Er hat in ungleich schwierigeren Zeiten an die Vereinigten Staaten von Europa geglaubt, während heute spalterische Ideen offen geäußert werden. Denken Sie doch beispielsweise an den Vorschlag, einen Nord- und einen Süd-Euro einzuführen. Da bestehen nicht nur ökonomische Risiken, sondern auch politische. Vor allem Letztere scheinen mir die Unterstützer dieser Idee nicht wirklich bedacht zu haben. Streng genommen könnte Frankreich einer Nord-Eurozone mit den aktuellen Kennzahlen nicht angehören. Dann müssten Deutschland und Frankreich also wieder getrennte Wege gehen. Dieser Vorschlag ist unhistorisch und würde die gesamten Integrationsbemühungen um Jahrzehnte zurückwerfen.
»Stärkung europäischer Institutionen«
GENSCHER
Wenn es nicht sogar zu einem irreparablen Schaden für das Projekt Europa kommen würde. Die jetzige Vertrauenskrise muss überwunden werden, indem die Politik zu dem steht, was sie sich
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