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Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Titel: Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Lindner , Hans-Dietrich Genscher
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Union ist wirklich ein Rechtsgebilde sui generis, kein Staatenbund, kein Bundesstaat, das passt alles nicht genau. Es ist etwas ganz Besonderes, was in Europa in Gang gekommen ist. Das wird auch kein Föderalismus sein, wie wir ihn in Deutschland haben, auch dafür ist dieses Brüsseler Europa viel zu verschieden. Und dennoch: Am Ende muss es gemeinsame Entscheidungen geben. Das ist erreichbar – wie man jetzt sieht. Es ist doch beachtlich, was wir alles gemeinsam machen seit Beginn der Euro-Krise.
    LINDNER
    Zustimmung – das künftige Europa wird sicherlich nicht eins zu eins nach dem Modell der Bundesrepublik oder der Vereinigten Staaten von Amerika ausfallen; deshalb meide ich übrigens das Wort von den »Vereinigten Staaten von Europa«. Die Idee der Nation selbst ist ja bereits europäisch. Ihr Wettbewerb hat über Jahrhunderte enormen kulturellen Fortschritt bewirkt. Ein föderales System für Europa sollte und muss den Nationalstaat aber auch gar nicht historisch abhaken. Hat Jacques Delors nicht einmal von Europa als einer »Föderation der Nationalstaaten« gesprochen? Damit kann ich mich identifizieren. Im 21 . Jahrhundert werden die Staaten in bestimmten Fragen Souveränität weiter zusammenführen und auf eine andere Ebene abgeben müssen, weil die Probleme längst aus dem nationalen Rahmen ausgewandert sind. Es klingt zuerst paradox, aber in meinen Augen erlaubt erst die Abgabe von nationalen Hoheitsrechten wieder die Ausübung von dann gemeinsamen Hoheitsrechten.
    Wenn beispielsweise das Internet, die Kapitalmärkte, die Aktivität von Konzernen transnationalen Charakter haben, dann muss deren Rahmensetzung nachziehen. Nur – eine europäische Föderation hätte immense Unterschiede von Mentalitäten, Landsmannschaften, Wirtschaftsstärke versammelt. Wollte man dann in jedem Detail einheitliche Regeln und Standards definieren, die für alle passen, würden manche aus der Kurve fliegen. Bundesstaatlichkeit bedeutet aber auch gar nicht Zentralismus. Die Spanier haben ihre Siesta, die würden wir quälen, würden wir ihnen unser deutsches Ladenschlussgesetz aufzwingen. Also: Einheit in Vielfalt!
    GENSCHER
    Damit die Kreativität sich überhaupt erst entwickeln kann!
    LINDNER
    Es stellt sich aber die Frage, welcher Leitidee ein solches föderales System folgt. Ich will – etwas zugespitzt – dazu zwei Schulen unterscheiden: Die erste nenne ich nach Robert Schuman und Jean Monnet einmal Schuman-Monnet-Schule. Ich denke an die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die beides als kriegswichtige Güter unter gemeinsame Kontrolle gestellt hat. Das Hauptmotiv war Friedenssicherung, die Methode Vergemeinschaftung und eine supranationale Behörde. Die zweite Schule nenne ich nach Jacques Delors, unter dessen Verantwortungszeit als Präsident der EG -Kommission aus einer Freihandelszone ein grenzenloser Markt mit Freiheit für Menschen, Waren, Kapital und Dienstleistungen wurde. Also ein wirkliches »Haus der Freiheit«, wie Konrad Adenauer gesagt hat. Diese Freiheit braucht Regeln, aber keine Bürokratie.
    Für mich ist klar, dass das zukünftige Europa der zweiten Entwicklungslinie folgen sollte. Dazu gehört, dass wir im Sinne gemeinsamer Regeln zusätzliche Souveränitätsrechte nach Brüssel abgeben müssen, um überhaupt in die Lage zu kommen, die großen Herausforderungen anpacken zu können. Andererseits sollten die Regionen mehr Verantwortung erhalten. So wie es bei uns Kompetenzen gibt, die der Bund wahrnehmen muss, und solche, die die Länder wahrnehmen sollten oder die Kommunen, muss man auch in Europa immer wieder neu darüber nachdenken: Was ist eine Aufgabe, die auf der untersten oder auf einer höheren Ebene wahrgenommen werden sollte? Und da mache ich einen Punkt: Ich glaube, dass wir ängstlich an einer ganzen Reihe von Kompetenzen in nationaler Hand festhalten, die im nationalen Kontext aber nicht mehr sinnvoll sind. Und auf der anderen Seite haben wir in Europa bestimmte Aufgaben angesiedelt, die eigentlich auf einer übergeordneten Ebene nicht vernünftig gelöst werden können, die besser sogar in die Hand der einzelnen Regionen gelegt werden sollten.
    Kurz gesagt: Ein Europa, das eine einheitliche Sicherheitsphilosophie für die Kernkraftwerke beschließen kann, das will ich, aber keines, das punktualistische Einzelbeschlüsse fasst wie das Glühbirnenverbot. Europa sollte sich nicht mit der Frauenquote beschäftigen, das ist eine Frage für nationale Parlamente, sondern

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