Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
immer noch in den Köpfen spuken, übereinstimmen mit den Niederlanden!
LINDNER
Außer beim Fußball.
GENSCHER
Weshalb die deutsche Politik der Zurückhaltung, die wir wollten, eigentlich nicht nur eine Reaktion auf die Vergangenheit ist, sondern das richtige Gefühl ausdrückt, dass die Zukunft andere, gemeinsame Antworten erwartet als in der Vergangenheit. Nationalstaatlich lässt sich das alles nicht mehr definieren – allein Ihre Beispiele zur Infrastruktur, Herr Lindner, illustrieren das.
LINDNER
Ich will einen weiteren kritischen Punkt ansprechen. Ich glaube, dass die eine Billion Euro, die bis 2020 in den europäischen Haushalt fließen, mit den falschen Prioritäten verausgabt werden – viel zu hohe Agrarsubventionen, viel zu wenig Innovation. Aber deshalb bin ich nicht gegen Europa, sondern ich will es nur anders gewichten.
GENSCHER
Das ist hochinteressant, was Sie sagen. Sie diskutieren die Frage der Agrarsubventionen als ein europäisches Problem. In Wahrheit ist es das Produkt ganz engstirniger, nationaler Interessen.
LINDNER
Ja, aber es wird zu einem europäischen Problem, weil nationale Regierungen über den Umweg der Europäischen Union ihre Steckenpferde pflegen.
GENSCHER
Dann sollte man besser sagen: Es schafft ein Problem
für
die europäische Politik. Ein enges nationales Problem, es wird aber verlagert, als wäre das europäisches Denken. Wenn jemand etwas einwenden möchte gegen Europa, weil alles so falsch läuft, dann kommt oft ein Totschlagargument – eben die Ausgaben für die Agrarpolitik. Was ja noch die schlimme Nebenwirkung hat, dass wir das Entstehen gesunder Landwirtschaften in der Dritten Welt verhindern, indem wir unsere Produkte für den Welt-Agrarmarkt subventionieren. Damit verhindern wir dann dort auch wieder für uns Absatzmöglichkeiten für industrielle Produkte, weil keine Wertschöpfung in der Landwirtschaft möglich ist.
LINDNER
Eben. Würde man wirklich europäisch denken, dürfte das nicht passieren. Dann müssten diese Gelder für Wettbewerbsfähigkeit eingesetzt werden.
GENSCHER
Ich sehe manches kritisch, nicht nur diese fehlgeleiteten Agrarsubventionen. Aber wenn Kritiker kommen und locker vorschlagen, wir brauchten die europäische Währung nicht, dann ist das für mich etwas vollkommen anderes.
LINDNER
Das ist auch etwas vollkommen anderes.
GENSCHER
Sehen Sie! Es gibt unterschiedliche Kritiken – das eine ist die Fundamentalkritik, die sich eigentlich gegen die europäische Einigung als solche richtet. Rückbau heißt Ruinen – das zerfällt. Entscheidend ist, ob jemand Europa verbessern oder ob er weniger Europa will, das ist ein großer Unterschied. Natürlich ist nichts frei von Kritik, und es muss auch in Europa enorm viel geschehen. Wenn ich aber darüber rede, dass ich die Wirtschaftsunion brauche, eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik, dann entspringt das dem Wunsch nach mehr Europa, nicht nach weniger. Und diejenigen, die das ablehnen, wollen in Wahrheit den Weiterbau Europas verhindern. Diese Diskussion haben wir geführt, und wir leiden heute darunter. Ich habe schon daran erinnert, dass an den anderen die Frage gescheitert ist, ob wir eine gemeinsame Finanzpolitik mit der gemeinsamen Wirtschaftspolitik verbinden; von unserer Seite kam das Totschlagsargument: keine Wirtschaftsregierung. Das heißt, man verweigerte der Währungsunion ein wichtiges Element, das sie brauchte, um funktionieren zu können.
Wir zeigen uns jetzt bereit, das langsam nachzuliefern. Und daran scheiden sich die Geister. Sie scheiden sich nicht daran, ob man kritikbereit ist, da fällt einem eine Menge ein: Natürlich muss man kritisieren, dass das Parlament nicht die gebotenen Rechte besitzt, eine europäische Mehrheitsbildung ist nicht möglich, weil die Mitglieder der europäischen Regierung national berufen werden. Das ist jedoch eine andere Art der Kritik. Europa verbessern oder weniger Europa – das ist es, woran sich die Geister scheiden.
LINDNER
Natürlich kann es auch eine versteckte Agenda geben, Einzelpunkte zu kritisieren, um das ganze Projekt infrage zu stellen. Aber wir brauchen trotzdem, und da sind wir ja durchaus einer Meinung, eine offene Debatte darüber, wo wir mehr Europa und ein besseres Europa brauchen.
Gehört die Türkei dazu?
GENSCHER
Etwas anderes gehört noch zu der Frage, welches Europa wir wollen. Ein Beitritt der Türkei steht nicht aktuell an – aber zu viele Kräfte hierzulande wollen die Türkei auch
Weitere Kostenlose Bücher