Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Italien dauert im Durchschnitt 969 Tage. Wenn der Arbeitnehmer gewinnt, erhält er für zweieinhalb Jahre Lohn und muss wieder eingestellt werden. Selbst deutsche Gewerkschaften könnten da eine Reform nicht als Sozialabbau brandmarken – das ist einfach verkrustet. Am Ende geht das zulasten der Arbeitnehmer, die eine neue Beschäftigung suchen.
GENSCHER
Mich treibt vor allem das Problem der Jugendarbeitslosigkeit um. Wenn junge Menschen aufwachsen mit dem Eindruck, Europa bedeutet Perspektivlosigkeit, dann gute Nacht, Europa.
LINDNER
Das teile ich. Die Jugendarbeitslosigkeit hat allerdings strukturelle Ursachen, die sich nicht über Nacht beseitigen lassen und die nur wenig mit Europa zu tun haben. Gerade deshalb müssen wir der jungen Generation zeigen, dass Europa nicht die Ursache für ihre Probleme ist, sondern vielmehr ihre Chance auf eine Zukunftsperspektive. In Deutschland etwa zeichnet sich im Handwerk ein Mangel an qualifizierten Auszubildenden ab. Da liegt doch eine wirklich europäische Lösung nahe: nämlich aktiv in Spanien oder Griechenland für Ausbildung und Beruf in Deutschland zu werben. Nach meinem Geschmack gibt es noch zu wenig Mobilität. Sprachbarrieren kann man überwinden, entsprechende Programme über die Europäischen Sozialfonds können gefördert werden.
»Was wirtschaftlich-industriell zusammenwächst, ist sensationell«
GENSCHER
Das wäre europäisches Denken, ja. Ich will noch einmal das Stichwort »mehr Kompetenzen für den EU -Währungskommissar« von eben aufgreifen: Europa darf nicht vergessen, dass es mehr ist als eine Wirtschaftsgemeinschaft und eine ökonomische Idee. Deshalb muss Europa in allen Bereichen weitergebaut werden. Insofern hat die Bundeskanzlerin recht, wenn sie auf die Finalität hinweist und drängt, wir müssten in Richtung auf eine wirkliche europäische Union weiterarbeiten. Manche wenden ein, das sei ein Ablenkungsmanöver – das ist es aber nicht. Wir werden auf Dauer die Bürger in Europa allein für eine Wirtschaftsunion nicht gewinnen können. Es wird auch, wie sich jetzt schon zeigt, nicht ausreichen. Deswegen fordere ich dazu auf, Versäumtes nachzuarbeiten und den Ausbau der politischen Union und ihrer Verfassung voranzutreiben.
LINDNER
Wie überwinden wir aber die Skepsis bei den Menschen? Der Verfassungsvertrag ist ja in Referenden in Frankreich und den Niederlanden vom Volk abgelehnt worden.
GENSCHER
Es muss endlich Schluss sein mit dem Versuch der Nationalstaaten, all ihre Probleme auf Europa abzuladen. »Das müssen wir wegen Brüssel« – diesen Satz kann ich nicht mehr hören. Es gibt Politiker in allen Staaten, die so tun, als wäre Brüssel eine Feindmacht, die aus der Ferne über uns gekommen ist und nun über uns herrscht. Brüssel, das sind doch wir mit unserer Vertretung im Europäischen Rat, im Parlament und in der Kommission.
LINDNER
Innerhalb der FDP haben wir eine solche Debatte über Europa geführt. Bei unserem Mitgliederentscheid zur Euro-Politik der Bundesregierung hat sich gezeigt, dass man für Europa erfolgreich kämpfen kann. Allerdings stellt sich immer mehr die Frage, wohin wir mit der Europäischen Union wollen. Wie soll Europa in 30 Jahren aussehen?
GENSCHER
Für mich sind es die Vereinigten Staaten von Europa. Aber ich sehe nicht die Möglichkeit zu sagen, wir können das in einem großen, ganz gewaltigen Schritt tun. Europa bleibt ein Entwicklungsprozess. Man muss Fortschritte dort nehmen, wo sie jeweils möglich sind. Eine Politik der Verknüpfung, des Junktims also, kann leicht zum Stillstand führen. Wichtig ist nur, dass die Richtung stimmt. Wichtig ist, dass das Momentum, dass die Dynamik gesichert ist. Schon das ist eine gigantische Aufgabe.
LINDNER
Sicherlich sollte sich Europa nur Meilensteine vornehmen, die mittelfristig erreichbar sind. Wenn es um die Entwicklung gemeinsamer Institutionen geht, will ich mich allerdings nicht mit der losen Kopplung von Integrationsfortschritten in einzelnen Politikfeldern zufrieden geben. Wir streiten über Eurobonds oder über die Rolle der EZB – alles aktuelle und wichtige Fragen, aber wir sollten darüber nicht vergessen, dass über das Projekt Europa insgesamt zu sprechen ist. Die Krise der Gegenwart kann ja auch als Geburtswehen eines erneuerten Europas begriffen werden, das die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt.
GENSCHER
Ich scheue mich dennoch ein wenig, dazu bestimmte Modelle zu nennen, denen wir folgen sollten. Die Europäische
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