Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Leistungen der Aufbaugeneration nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland gehört es, dass sie die Verantwortung der Deutschen erkannt haben. Das schließt unsere Verantwortung als Europäer ein. Das Bewusstsein dieser Verantwortung hat uns einen völlig neuen Zugang zum Verständnis unseres Standortes in Europa und in der Welt erschlossen. Daraus ergaben sich zwei fundamentale Postulate der deutschen Außenpolitik, die beide dem übergeordneten Ziel der Friedenssicherung dienten.
Erstens: die europäische Einigungspolitik mit Deutschland als Mitglied der Gemeinschaft der europäischen Demokratien und als Mitglied der demokratischen transatlantischen Partnerschaft. Das andere fundamentale Ziel war das Bemühen um die friedliche Überwindung der Spaltung des Kontinents und damit Deutschlands. Das bedeutete auch die Einbettung der deutschen in die europäische Vereinigungspolitik. Es war die Europäisierung der deutschen Frage, die uns mit dem KSZE -Prozess zum Motor einer gesamteuropäischen Vereinigungspolitik werden ließ. Zugleich wurde daraus die erfolgreichste Menschenrechtsinitiative der Geschichte. Deutsche Staatskunst musste darin bestehen, den europäischen Einigungsprozess im Westen und den West-Ost-Annäherungsprozess nicht in eine Rivalität geraten zu lassen, sondern eine doppelte Dynamik zu entfalten.
Natürlich wiederholt sich nichts in der Geschichte. Aber lernen aus der Geschichte sollte man schon. Das bedeutet die unlösbare Verbindung des deutschen und des europäischen Schicksals. Niemand kann seinem Standort entrinnen; aber auch nicht seiner europäischen Verantwortung. Diese reicht heute über Europa hinaus. Vergessen wir nicht: Die Einigung Europas erwuchs aus der blutigen Erfahrung einer schwierigen europäischen Kriegsgeschichte. Europa hat daraus die Konsequenzen gezogen. Die Welt muss diesen Test erst noch bestehen. Wenn wir von einer Weltnachbarschaftsordnung sprechen, müssen wir erkennen, dass alle Nachbarn sind, auch wenn man keine gemeinsame Grenze hat. Andere Teile der Welt sind erst im Begriff, sich damit vertraut zu machen. Globale Seuchen, Bedrohung der natürlichen Lebensgrundlagen für die ganze Menschheit, internationaler Terrorismus, Vernichtungswaffen, die von jedem Ort der Welt jeden anderen erreichen können – das zwingt zu einer globalen Kooperationsordnung auf gleicher Augenhöhe. Es geht. Europa kann das zeigen. Das ist der Grund, warum wir von der Zukunftswerkstatt Europa sprechen können. Aber das ist kein Ehrentitel europäischer Eitelkeit, sondern europäische Verantwortung. Daran werden wir gemessen werden.
LINDNER
Ein schönes Schlusswort.
GENSCHER
Noch nicht ganz. Europa, das ist auch eine Frage der Seele. Manche sehen es hingegen nur als ein politisches Projekt oder, bedenklicher noch, nur als ein ökonomisches. Diese Verengung des Europaverständnisses ist die Quelle neu entfachter nationaler Egoismen.
Herr Lindner, ich muss es noch einmal zusammenfassen, und ich will es unterstreichen: Europa ist unsere Zukunft! Es ist keine Leerformel, hinzuzufügen: Wir haben keine andere! Es sei denn, den Rückfall in die nationalistischen Fehler der Vergangenheit. Hier entsteht eben wirklich etwas ganz Neues, etwas Einzigartiges, etwas, was es in der Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben hat. Völker werden sich ihrer Vergangenheit und der in der Vergangenheit begangenen Fehler bewusst. Sie kommen zu einem historischen Entschluss: Unsere Zukunft wollen wir als eine gemeinsame betrachten und als eine gemeinsame gestalten! Deshalb wurde Europa zur Zukunftswerkstatt für eine neue Weltordnung. Beim Blick in andere Weltregionen treffen wir noch vielerorts auf altes Denken, dessen Auswirkungen wir in Europa so bitter erfahren haben. Das zu vermeiden verlangt die historische Entscheidung für die Abkehr von einer von nationalem Egoismus bestimmten Rivalitätsordnung hin zu einer von Verantwortung bestimmten Kooperationsordnung.
Und die Großen dieser Welt? Manche von ihnen erfahren erst jetzt, was unmittelbare Bedrohung ihres inneren und äußeren Friedens bedeutet; und manche, dass es auch für sie besser ist, die anderen Teile der Welt als Partner mit gleichen Rechten und gleicher Würde zu akzeptieren und nicht als Einflussgebiet – was die Entscheidung für eine gleichberechtigte und ebenbürtige Kooperation voraussetzt. Auch für sie ist Europa Zukunftswerkstatt. Denn auch in Europa mussten die Großen erst lernen, was gleichberechtigter und ebenbürtiger
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