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Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)

Titel: Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Lindner , Hans-Dietrich Genscher
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Umgang bedeutet. Da weiß man als Deutscher, wovon man spricht.
    Und doch haben wir unsere Zeit gebraucht, um die geschichtliche Lektion voll zu begreifen. Schrill klingt sie noch in meinen Ohren, die Kritik an deutscher Befindlichkeit und an der deutschen Außenpolitik, indem es plötzlich hieß: erst machtbesessen und jetzt machtvergessen. Das mit dem machtbesessen stimmt ja – leider! Aber machtvergessen? Mir wäre lieber, hier würde jetzt stehen: verantwortungsbewusst. Das wäre ein schönes Wort für unser Land. Das verlangt aber eben auch, unserer europäischen Verantwortung gerecht zu werden. Ich sage Ihnen, wir werden das 21 . Jahrhundert nur bestehen, wenn wir es von Anbeginn europäisch zu denken vermögen. Nur wer aus einem europäischen Wir-Gefühl empfindet, wird zu den richtigen Entscheidungen kommen. Entscheidungen, die unter den Gesetzen einer globalen Weltordnung zu treffen sind, einer Welt, die umfassend interdependent ist, in der es keine entfernten Gebiete gibt und in der jeder jedes anderen Nachbar ist, mit oder ohne eine gemeinsame Grenze.
    Lieber Herr Lindner, ich bitte um Nachsicht, wenn ich mich in manchem wiederhole. Aber ich bin aufgewachsen in einer Welt des Krieges und des Terrors, und ich möchte im neunten Jahrzehnt meines Lebens die Gewissheit haben, dass meine Enkel in eine Welt hineinwachsen, die immer friedlicher wird und die in immer mehr Teilen der Welt als gerecht empfunden werden kann. In Europa sind wir da schon sehr weit gekommen. Aber global liegt noch eine lange Wegstrecke vor uns.

Verantwortungswirtschaft
    LINDNER
    Deutschland hat die Finanz- und Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahre erfreulich gut durchgestanden. Dennoch gibt es einen tiefen Vertrauensverlust in die Soziale Marktwirtschaft. Der Staat, die Steuerzahler, wir alle haben Schäden übernehmen müssen, die von einzelnen Spielern an den Kapitalmärkten verursacht wurden. Die Mittelschicht hat den berechtigten Eindruck, das Wachstum komme bei ihr nicht mehr an. Wochenzeitungen fragen in ihren Überschriften nach »Alternativen zum Kapitalismus«. Ausgerechnet in Deutschland wachsen die Zweifel, ob Marktwirtschaft überhaupt sozial sein kann. Ich treffe überzeugte Marktwirtschaftler, etwa einen Handwerksmeister, die einerseits die bürokratischen Fesseln im Alltag beklagen, sich andererseits aber den entfesselten Kapitalmärkten schutzlos ausgeliefert fühlen.
    GENSCHER
    Der Vertrauensverlust in die Marktwirtschaft, den Sie schildern, ist angesichts der Ereignisse der letzten Jahre nicht überraschend und nicht unverdient. Aber wir haben es nicht zu tun mit Mängeln der Sozialen Marktwirtschaft, sondern mit Defiziten bei ihrer Praktizierung. Ich möchte deshalb bewusst daran erinnern, dass man sich mit Recht nach dem Zweiten Weltkrieg für die Soziale Marktwirtschaft entschieden hat. Dem entspricht auch unser Grundgesetz, das unseren Staat definiert als freiheitlichen und als sozialen Rechtsstaat. Beide Begriffe stehen dort. Das Grundgesetz schreibt keine Wirtschaftsordnung vor, es hält nur fest: ein sozialer Rechtsstaat – das ist wichtig. Für uns als Liberale ist schon vom Menschenbild her der soziale Rechtsstaat eine pure Selbstverständlichkeit. Und das muss so bleiben. Das schließt das Postulat »soziale Gerechtigkeit« ein.
    LINDNER
    Die Ordnungsidee der Sozialen Markwirtschaft mag bis heute nicht ausdrücklich im Grundgesetz genannt sein, was ich für ein Versäumnis halte, aber sie entspricht den von Ihnen genannten Prinzipien des Grundgesetzes doch am besten. Denn der Staat des Grundgesetzes ist ein sozialer Rechtsstaat, der aber auch die Freiheit des Einzelnen zu achten hat. Das ist für mich der Kern der Sozialen Marktwirtschaft: prinzipielle Priorität für die Freiheit des Einzelnen, aber in einem fairen Rechtsrahmen, der auch den Schwächeren Chancen eröffnet.
    GENSCHER
    Ja, das sehen wir heute so. In der Gründungsphase der Bundesrepublik wurden darüber allerdings Auseinandersetzungen geführt. Starke Kräfte innerhalb der CDU sprachen von einem »Christlichen Sozialismus«, ich denke an Jakob Kaiser oder Karl Arnold, den zweiten Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, und an das sogenannte »Ahlener Programm«. Die SPD war sowieso noch vor Godesberg. Es war die FDP , die geschlossen und mit Entschiedenheit Ludwig Erhard als Bundeswirtschaftsminister darin unterstützt hat, die Soziale Marktwirtschaft durchzusetzen. Da ging es aber nicht nur um die Abgrenzung zur sozialistischen

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