Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
seinem letzten Essay hat Ralf Dahrendorf einen »Pumpkapitalismus« kritisiert. Weil die Rendite aus realwirtschaftlichen Investitionen nicht mehr befriedigt hat, wurden geschlossene Kreisläufe geschaffen, in denen aus geborgtem Geld mehr Geld gemacht werden konnte. Dahrendorf hat davon einen »Sparkapitalismus« unterschieden, in dem ehrliche Kaufleute mit gespartem Geld ihre Ziele verwirklicht haben. Ich ziehe das Wort »Vollkaskokapitalismus« vor, weil Investoren ihre eigenen Risiken mit Versicherungsprodukten und Geschäften außerhalb der Börsen völlig legal so im Markt verteilen konnten, dass die systemische Gefahr lange verdeckt blieb. Die öffentlichen Zentralbanken haben das Schneeballsystem mit billigem Geld versorgt. Diese Geldhalluzinationen stehen in den Bilanzen. Was wir stattdessen brauchen ist einen Verantwortungskapitalismus …
GENSCHER
… das teile ich in der Sache, beim Begriff »Kapitalismus« halte ich aber meinen Einwand aufrecht, Herr Lindner. Das Wort Kapitalismus ist ein Reizwort, das unterschiedlich verstanden wird. Ich mache einen Gegenvorschlag: »Verantwortungswirtschaft«! Dabei unterstreiche ich das Wort »Verantwortung« drei Mal. Freiheit ohne Verantwortung bedeutet Chaos, Rechtlosigkeit und Werteverleugnung. Verantwortung ist die Moral der Freiheit.
LINDNER
Einverstanden: Verantwortungswirtschaft. Damit will ich zwei Aspekte verbinden. Handeln und Haften dürfen erstens nicht getrennt werden. Die Möglichkeit des individuellen Scheiterns ist eine natürliche Bremse für Risiken. Liberale müssen daher eine Wirtschaftsordnung definieren, die faire Wettbewerbsbedingungen schafft. Solche nackten Marktregeln allein reichen zweitens aber nicht aus, wenn sie nicht in einer Mentalität ehrlicher Kaufmannschaft gelebt werden. Lücken im System gibt es immer. Eine Verantwortungswirtschaft fordert also vom einzelnen Menschen, dass er – auch wenn er seinen Vorteil im Markt sucht – immer noch Gründe angeben kann für sein Handeln, die über den kurzfristigen Gewinn hinausgehen.
Vor diesem Hintergrund halte ich es übrigens auch für bedrohlich, dass der automatisierte Computerhandel eine solche Bedeutung gewonnen hat. Am 6 . Mai 2010 brach etwa in den USA der Aktienmarkt dramatisch ein, um sich danach genauso schnell wieder zu erholen. In zehn Minuten wurden 1 , 3 Milliarden Aktien gehandelt. Die Gründe für den »Flash-Crash« konnten nie ganz aufgeklärt werden, aber sie hängen wohl mit computergesteuerten Handelsprogrammen zusammen. Wenn Transaktionen auf den Märkten in Sekundenbruchteilen vom Autopiloten abgewickelt werden, dann wird irgendwann der verantwortlich handelnde Mensch aus der Gleichung gekürzt. Verantwortung heißt für mich, die eigenen Entscheidungen vor dem gesunden Menschenverstand, vor der Moral oder vor dem Gemeinwohl rechtfertigen zu können. Wenn jemand riskante Geschäfte auf den Kapitalmärkten betreibt, die am Ende zum Zusammenbruch des Systems führen können, kann er das nicht rechtfertigen – selbst wenn er individuell seinen Gewinn eingestrichen hat.
Ich fordere damit keine naive Gesinnungsethik, denn ein Unternehmer könnte beispielsweise ja den Abbau von Personal rechtfertigen, wenn die erfolgreiche Existenz seines Betriebes ansonsten gefährdet würde. Hier will ich übrigens den alten Adam Smith rehabilitieren, den ich eben abgekanzelt habe. Dessen erstes Buch behandelte »ethische Gefühle«, die für die gelingende Gesellschaft unabdingbar sind. Erst mit dieser Voraussetzung hat Smith darauf gesetzt, dass das ungeplante Miteinander in Wirtschaft und Gesellschaft wie von einer »unsichtbaren Hand« zu Wohlstand, neuem Wissen und Gemeinwohl geformt wird.
GENSCHER
Auch die Politik muss ihre Verantwortung übernehmen. Gegenwärtig wirkt es nicht so, als führe sie offensiv. Selbst der Begriff »die Märkte« verrät das. Wer ist das eigentlich, wenn es heißt, »die Märkte« verlangen dies und das von uns, den Iren, den Portugiesen, den Griechen? Die Märkte – das ist die Addition aller Marktteilnehmer. Ich bin auch Teil des Marktes, wenn ich mich entscheide, ein Paar Schuhe zu kaufen. Die Märkte – das ist das Agieren der Akteure.
Der Markt braucht neue Regeln – und Transparenz
LINDNER
Ausdrücklich, ja. Vielleicht sagen wir es auch als Liberale einmal: Der Markt ist ein künstlicher Ort. Er wird erst geschaffen durch die Regeln, die wir ihm geben. Die jüngsten Krisen der Finanzmärkte haben daran erinnert, dass die
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