Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Türkei ohnehin immer bedeutsamer. Da möchte ich die Kritiker eines Beitritts der Türkei schon daran erinnern, dass in der Zeit der Ost-West-Konfrontation das Nato-Mitglied Türkei stets ein verlässlicher Partner bei dem Schutz der Südflanke Europas war.
Europäische Persönlichkeiten
LINDNER
Ich möchte noch zu einem institutionellen Vorschlag Ihre Meinung hören. Ralf Dahrendorf, der nun wirklich ein überzeugter Europäer war, hat noch das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit beklagt. Davon kann man heute nicht mehr sprechen. Die Euro-Krise hat die Zusammenhänge offengelegt. Uns interessiert plötzlich der Ausgang einer Kommunalwahl im Nachbarland, wenn sie die Zustimmung zur dortigen Regierungspolitik zeigt. Wenn Menschen über dieselben Themen sprechen, dieselben Nachrichten verfolgen, dann bildet sich eine gemeinsame Öffentlichkeit. Ich bin daher der Meinung, dass damit die politisch-kulturellen Voraussetzungen für einen von den Bürgerinnen und Bürgern direkt gewählten Repräsentanten Europas wachsen, eine Art »europäischer Präsident«. Ich halte das für einen Auftrag gerade an eine liberale Partei, in der Epoche transnationaler Politikgestaltung durch internationale Organisationen oder im Wege der Vereinbarungen zwischen Regierungen den Einfluss der Parlamente, aber eben auch die Einwirkungsmöglichkeit jedes Individuums im Blick zu behalten; sonst läuft die Demokratie irgendwann leer. Konkret könnte es der Präsident der Europäischen Kommission sein, der aber im Gegensatz zu seinen Kommissaren direkt gewählt würde. Guido Westerwelle hat sich vor einiger Zeit dafür ausgesprochen, und ich unterstütze das. Eine europäische Persönlichkeit, die von der Bevölkerung getragen wird, würde dem ganzen Projekt eine neue Dynamik geben. Das nimmt die Menschen ernst und führt die jeweiligen Parteienfamilien in Europa zusammen.
GENSCHER
Meine Priorität liegt, wie gesagt, eher bei der Stärkung des Europäischen Parlaments. Ihr paneuropäischer Präsident würde das Institutionengefüge deutlich verändern, allerdings in Richtung auf eine Präsidialdemokratie. Als Identifikationsfaktor kann er eine positive Wirkung entfalten; auch in Richtung auf ein europäisches Wir-Gefühl.
LINDNER
Den präsidialen Charakter würde ich in Kauf nehmen. Die Stärkung des Europäischen Parlaments, für die Sie plädieren, steht dazu gar nicht im Widerspruch. Im Gegenteil ergäbe sich ein Zwei-Kammern-System mit Parlament und dem Europäischen Rat, der die Funktion unseres Bundesrates hätte. Im Europaparlament werden die Abgeordneten aus einer zwangsläufig auch an nationalen Interessen orientierten Perspektive über Gemeinsamkeiten beraten. An der Spitze der Exekutive stünde dagegen der direkt gewählte Präsident der Europäischen Kommission, der Europa als Ganzem verpflichtet ist. Bei einer Direktwahl gäbe es eine Gelegenheit, über europäische Belange gemeinsam zu debattieren und zu entscheiden. Die Europawahlen erfüllen diese Funktion nach meiner Wahrnehmung nicht. Das sind oft genug vorgezogene und nachlaufende Bundestagswahlen, die nur einen geringen Einfluss auf den Ablauf des Brüsseler Betriebs haben. Der Chef der Kommission hat bereits heute eine enorm starke Stellung mit einer Richtlinienkompetenz. Dennoch könnte sicher nur eine Minderheit der Europäer darlegen, wie er überhaupt in sein Amt gelangt.
GENSCHER
Worin wir in jedem Fall übereinstimmen, ist die Bedeutung europäischer Persönlichkeiten. Je mehr unser Europa zusammenwächst, desto mehr werden wir erkennen, wie viele europäische Persönlichkeiten es gibt.
LINDNER
Eine solche europäische Persönlichkeit ist Angela Merkel.
GENSCHER
Ja, das ist seit langem meine Meinung. Und das wird zunehmend auch in Deutschland und in Europa erkannt. Sie sieht die deutsche Europapolitik als Ausdruck europäischer Verantwortungspolitik. Lieber Herr Lindner, hier kommen wir an eine Grundfrage meines Politikverständnisses. Mir sträuben sich noch immer die Haare, wenn ich höre, wie manche Diskussionsteilnehmer unbefangen – um nicht zu sagen leichtfertig – mit dem Begriff Macht, also auch Machtpolitik hantieren. Macht – wofür? Gegen wen? Oder, schlimmer noch, über wen?
Wir sind in einer Phase der Menschheitsgeschichte angekommen, in der der Begriff Verantwortung umfassende und volle Geltung verlangt. Verantwortung im Sinne von Hans Jonas, Verantwortung des Einzelnen. Verantwortung von ganzen Völkern. Zu den großen
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