Brückenschläge: Zwei Generationen, eine Leidenschaft (German Edition)
Bildungserfolg der Kinder und Jugendlichen – das ist skandalös. Das Bildungssystem muss allen faire Chancen bieten.
GENSCHER
Die Abhängigkeit vom familiären Hintergrund ist für mich das besorgniserregendste Ergebnis der internationalen Bildungsuntersuchungen. Wenn nur zehn bis 15 Prozent der aus der Türkei stammenden jungen Männer und Frauen die Hochschulreife erreichen, dann stimmt etwas nicht.
LINDNER
Die sind nicht weniger talentiert als ihre Altersgenossen. Da gehen den Einzelnen Lebenschancen verloren – das ist unfair und muss gerade uns Liberale auf den Plan rufen. Dahrendorf hat ja mal die katholische Arbeitertochter vom Land als bildungspolitische Herausforderung beschrieben. Heute müsste man sagen: der junge Muslim mit türkischen Wurzeln aus der Großstadt. Wir haben jetzt die Wahl: Entweder man lässt das laufen und erhöht damit den sozialen Druck, der sich irgendwann explosiv entladen kann, oder wir heben das Potenzial dieser jungen Menschen, die mit uns gemeinsam einen wichtigen Beitrag für unser Land leisten können; gerade angesichts des demographischen Wandels.
Im Grunde gibt es also keine Alternative: mehr Sprachförderung schon vor der Einschulung, intensive fachliche und erzieherische Betreuung während der Schulzeit, ein fließender Übergang zwischen Schule und Ausbildung im »Dualen System«. Für Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien darf die öffentlich unterstützte Bildung nicht mit dem Ende der Schulpflicht oder dem Schulabschluss auslaufen. Ziel muss viel stärker als bisher die Arbeitsmarktintegration sein.
GENSCHER
Gut, diesen Punkt können wir verlassen. Ich bin gespannt auf Ihr zweites Projekt.
Mehr Freiheit für die Schulen!
LINDNER
Mehr Freiheit für die einzelne Schule und für den einzelnen Lehrer. Das scheint mir ein Schlüssel zu sein. Es gibt viele internationale Vergleichsstudien. Fälschlicherweise wird oft die Schulstruktur im Zusammenhang mit der Qualität betrachtet. Tatsächlich schneiden die Länder besser ab, die mehr Verantwortung an die Praktiker vor Ort abgeben – die den Bedarf besser einschätzen können. Das ist keine Überraschung. Bildung spielt sich ja nicht in Gesetzen, Erlassen und Verordnungen ab, sondern im Idealfall in einem Klassenraum, in dem sich motivierte und gut ausgebildete Lehrer und Schüler treffen, die aus dem Elternhaus eine gewisse zivilisatorische Mitgift erhalten haben. Um dieses – ich unterstreiche das Wort – »Ideal« zu erreichen, müssen wir die Bedingungen verbessern.
Wenn nach Umfragen 60 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer sagen, sie wünschen sich mehr Freiheiten, von als starr empfundenen Lehrplänen einmal abzuweichen, wenn sie erkennen, dass eine andere Frage viel wichtiger wäre für die Klasse – dann muss man das ermöglichen. Dieses Engagement darf nicht brachliegen. Die Schulen sollten auch über ihre Ressourcen stärker selbst entscheiden können: Brauchen wir einen neuen Physikraum oder einen neuen Konzertflügel, brauchen wir einen neuen Sportlehrer oder eher einen zusätzlichen Sozialarbeiter? Das läuft auf eine neue Bildungsverfassung hinaus, die auf der einen Seite mehr Freiheit in die einzelne Schule, den einzelnen Klassenraum bringt und auf der anderen Seite klare Zielvorgaben definiert. Gerne auch stärker einheitlich im Bund. Über das Erreichen der Zielvorgaben wäre dann auf der Basis von Berichten zur Qualität der einzelnen Schule öffentlich zu diskutieren. Was meinen Sie, welche Aufmerksamkeit ein solcher Qualitätsbericht der örtlichen Schulen in einer Gemeinde hätte!
GENSCHER
Was Sie zur Bedeutung der Lehrer gesagt haben, gefällt mir. Die Anforderungen und die Erwartungen an die Lehrer sind heute viel größer als früher, auch, was ihre Weiterbildung angeht. Wobei man feststellen muss, dass schon die Lehrerbildung als solche, also die Pädagogik im Studium, vernachlässigt wird, weil das Angebot der Universitäten mehr auf die Wissensvermittlung für die beabsichtigten Lehrfächer konzentriert ist. Wie dieses Wissen später an Kinder und Jugendliche vermittelt werden kann, wird allerdings zu wenig gelehrt. Der pädagogische Aspekt in der Lehrerausbildung und auch der Fortbildung muss gestärkt werden.
LINDNER
Damit haben Sie meinen dritten Punkt, den ich darlegen wollte, vorweggenommen: die Verbesserung der Lehrerqualifikation. Wenn man sich dabei aber allein auf eine veränderte Ausbildung verlassen wollte, würde die Qualitätsverbesserung allerdings
Weitere Kostenlose Bücher