Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Handgelenke. Sie hat Schatten unter den Augen. Sie weigert sich, ihr Haar aufzustecken. Ihre Augen, früher lebhaft und flink, starren als dunkle Seen aus ihrem Gesicht.
Ihre Mutter sagt: »Lucile, ich wünschte, du würdest nicht ständig an deinem Haar herumspielen. Es erinnert mich an – ich meine, es macht mich nervös.«
Dann geh aus dem Zimmer, Mutter. Schau weg.
Ihr Herz muss aus Stein sein, es will einfach nicht brechen. Jeden Morgen erwacht sie quicklebendig, atmend, vollauf funktionsfähig, und beginnt ihren Tag in dem eisernen Rund der Gesichter. In den Augen ihres Vaters sieht sie die Spiegelung einer glücklichen jungen Frau Mitte zwanzig; eine rotbackige Kinderschar umringt sie, und hinter ihr steht ein handfester, ehrenwerter Mann in schön gebügeltem Rock mit einem Nebelflecken an der Stelle, wo sein Gesicht sein sollte. Den Gefallen wird sie ihnen nicht tun. Sie denkt über Selbstmordarten nach. Aber das hieße einen Schlussstrich ziehen – und ist nicht die wahre Leidenschaft ohnehin die auf ewig unerfüllte? Besser sie sucht sich ein Kloster, dreht sich unter einer gestärkten Haube auf dem Spieß metaphorischer Lust. Oder sie geht eines Tages zur Tür hinaus wie zu einer harmlosen Besorgung, fort zu Armut, Liebe, Risiko.
Miss Languish, so nennt d’Anton sie. Es hat etwas mit den englischen Stücken zu tun, die er liest.
Am 12. Juni schließen sich drei Landpfarrer dem Dritten Stand an. Bis zum 17. Juni sind sechzehn weitere hinzugekommen. Der Dritte Stand nennt sich jetzt »Nationalversammlung«. Am 20. Juni findet sich die Nationalversammlung aus ihrem Saal ausgesperrt. Wegen Renovierung geschlossen, bescheidet man sie.
M. Bailly, ernst inmitten des grimmigen Gelächters, steht mit seinem Hut im Sommerregen. Dr. Guillotin, auch er Akademiemitglied, zupft ihn am Ellbogen. »Was ist mit dem Ballhaus dort vorne?«
Die in Hörweite Befindlichen starren ihn an. »Es ist nicht abgesperrt – viel Platz hätten wir darin nicht, ich weiß, aber … Hat jemand einen besseren Vorschlag?«
Im Ballhaus heben sie Präsident Bailly auf einen Tisch. Sie schwören feierlich, nicht auseinanderzugehen, ehe sie Frankreich nicht eine Verfassung gegeben haben. Der Wissenschaftler, von Gefühl übermannt, reckt die Hand in klassischer Geste. Überhaupt ist es ein sehr römischer Moment. »Bleibt abzuwarten, wie sie zusammenhalten, wenn die Soldaten anrücken«, sagt der Comte de Mirabeau.
Drei Tage später – sie sind wieder in ihrem alten Quartier – kommt der König zu ihrer Sitzung. Mit zögernder, schwankender Stimme erklärt er ihre Beschlüsse für ungültig. Er wird ihnen ein Reformprogramm diktieren, er allein. Vor ihm ein stummes Meer schwarzer Röcke, gebleichter Krawatten, steinerner Gesichter: Männer, die für ihr eigenes Monument Modell sitzen. Er befiehlt ihnen, auseinanderzugehen, klaubt dann den Rest seiner Majestät zusammen und stolziert mit seinem Gefolge von dannen.
Im Nu ist Mirabeau auf den Füßen. Stets auf seine Legende bedacht, sieht er sich nach Stenographen und Presse um. Der Zeremonienmeister schaltet sich ein: Ob sie wohl so gut sein und die Versammlung auflösen wollen, wie der König es angeordnet hat?
MIRABEAU : Wenn Sie Befehl haben, uns aus diesem Saal zu vertreiben, brauchen Sie auch die Erlaubnis, Gewalt anzuwenden. Wir räumen unsere Sitze nur gezückten Bajonetten. Der König kann unseren Tod anordnen – sagen Sie ihm, wir sind alle bereit zu sterben –, aber er darf nicht hoffen, dass wir uns trennen, ehe nicht die Verfassung verabschiedet ist.
Und nur für seinen Nebenmann hörbar fügt er hinzu: »Wenn sie kommen, nehmen wir die Beine in die Hand.«
Einen Moment lang schweigen sie alle – die Zyniker, die Lästerer, die Aufrechner der Vergangenheit. Dann brandet der Beifall der Abgeordneten los. Später machen sie Platz, um ihn vorbeizulassen, und starren auf den unsichtbaren Lorbeerkranz in seinem ungebärdigen Haar.
»Die Antwort bleibt immer die gleiche, Camille«, sagte Momoro, der Drucker. »Wenn ich das herausbringe, landen wir beide in der Bastille. Und das Umarbeiten können Sie sich auch schenken, solange jede neue Version nur noch schlimmer als die alte wird.«
Camille seufzte und nahm sein Manuskript wieder an sich. »Ich komme wieder. Oder auch nicht.«
Auf dem Pont-Neuf hatte ihm eine Frau heute Morgen aus der Hand gelesen. Sie hatte ihm das Übliche gewahrsagt: Reichtum, Macht, Erfolg in Herzensdingen. Aber als er wissen wollte, ob
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