Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
ergriff, raschelte Missbilligung wie Herbstlaub. Der Hof hatte noch immer nicht nach ihm gesandt; an den Abenden brauchte er viel Gesellschaft, um sich bei Laune zu halten. Der Comte verhandelte mit Lafayette: Bekehren Sie die liberalen Adligen, bettelte er. Den Abbé Sieyès beschwor er: Bearbeiten Sie die armen Priester, ihr Herz schlägt für das Volk, nicht für ihre Bischöfe. Der Abbé legte die Fingerspitzen aneinander; er war ein gebrechlicher, stiller, blasser Mann, der seine Worte von den Lippen fallen ließ, als wären sie in Stein gehauen – sich nie einen Scherz erlaubte, nie diskutierte. Die Politik, sagte er, ist eine Wissenschaft, die ich zur Vollendung geführt habe.
Als Nächstes schlug die Faust des Comte auf den Schreibtisch des Versammlungspräsidenten, M. Bailly, um dort seinen Anregungen Nachdruck zu verleihen. M. Bailly betrachtete ihn mit besorgter Miene; er war ein namhafter Astronom, dem, wie jemand einmal bemerkt hatte, an der Revolution der Planeten mehr lag als an der irdischen Revolution. Denn »Revolution« war nun das Wort der Stunde, nicht nur im Palais Royal, sondern auch hier inmitten von Quasten und Goldfarbe. Man hörte es von den Lippen des Abgeordneten Pétion, wenn er sein gepudertes Haupt zum Abgeordneten Buzot hinüberneigte, einem sympathischen jungen Anwalt aus Evreux. Zwanzig oder dreißig Männer saßen jetzt immer zusammen, verdrossenes Murmeln war von ihnen zu hören, und manchmal lachten sie. Die Jungfernrede des Abgeordneten Robespierre musste aus formalen Gründen ungehalten bleiben.
Die Leute fragten sich, wodurch er Mirabeau verärgert hatte – in diesem frühen Stadium! »Das rabiate Lamm«, so nannte ihn Mirabeau.
Der Erzbischof von Aix trat vor den Dritten Stand, einen Kanten steinharten schwärzlichen Brotes in den Händen und Krokodilstränen in den Augen. Er rief die Abgeordneten auf, nicht noch mehr Zeit mit fruchtlosem Debattieren zu vergeuden. Die Menschen hungerten, und das sei es, was sie zu essen bekämen. Er hielt das Brot mit spitzen Fingern in die Höhe; er zog ein Taschentüchlein hervor, das mit seinem Wappen bestickt war, und wischte sich den bläulich-weißen Schimmel von den Händen. Wie ekelhaft, sagten die Abgeordneten. Am besten, sagte er, sie vergaßen das verfahrensrechtliche Hickhack und taten sich mit den beiden anderen Ständen zusammen, um über Abhilfe zu beraten.
Robespierre steht auf. Er geht vor zum Podium. Er hat Angst, jemand könnte ihn abhalten wollen, er sieht sie schon von ihren Sitzen aufspringen, um ihm zuvorzukommen, darum senkt er seinen kleinen, adretten Kopf wie ein Stier und eilt vorwärts, um sie abzuschütteln. Er weiß: Wenn sie sich auch nur für eine Sitzung, für eine Abstimmung mit den anderen Ständen zusammentun, ist die Sache verloren. Es ist eine Falle, in die der Erzbischof sie da locken will. Die wenigen Schritte scheinen ihm endlos, als stapfte er durch tiefen Schlamm bergaufwärts, seinen Protest herausschreiend mit einer Stimme, die der Sturm ihm von den Lippen reißt. Sein Herz sitzt ihm hoch oben in der Kehle, ein Klumpen von exakt der gleichen Größe wie der Brotkanten in der Hand des Erzbischofs. Er dreht sich um, sieht unter sich Hunderte von weißen, leeren, emporgewandten Gesichtern und hört in der jähen Stille seine Stimme, klar und schneidend:
»Sollen sie ihre Equipagen verkaufen und das Geld den Armen geben …«
Ein Moment des Stutzens. Beifall wird keiner laut, aber ein Murmeln, scharf und gespannt. Die Leute stehen auf, um besser sehen zu können. Er errötet ein wenig bei so viel Beachtung. Damit beginnt alles: am 6. Juni 1789, nachmittags um drei.
6. JUNI , um sieben Uhr, Lucile Duplessis’ Tagebuch:
Sollen wir auf ewig kriechen? Wann finden wir das Glück, nach dem wir doch alle streben? Der Mensch ist so leicht zu blenden – kaum vergisst er sich, hält er sich für glücklich. Nein, auf Erden gibt es kein Glück, es ist nur eine Chimäre. Erst wenn die Welt nicht mehr ist … Doch wie sie auslöschen? Sie so auslöschen, dass es nichts mehr gibt? Nichts! Dass sich die Sonne verfinstert, ihren Schein verliert? Was wird dann aus ihr? Wie wird sie zu einem Nichts?
Ihre Feder verharrt bei dem Wort Nichts , um es zu unterstreichen. Aber es kommt eigentlich ohne Unterstreichung aus, oder?
Ihr Vater sagt: »Du isst nichts, Lucile. Du schwindest dahin. Was ist mit meiner hübschen Tochter passiert?«
Sie nimmt Konturen an, Vater. Ihre Kanten treten hervor, Schultern und
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