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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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Lafayettes Gedanken rasen – was wird daraus entstehen, wird die Hölle losbrechen, werden sie bis zum Abend echten Krieg haben? Er tritt neben sie, um sie mit seinem Körper abschirmen zu können, wenn es zum Schlimmsten … die Menge heult … und dann, der perfekte Höfling!, nimmt er die Hand der Königin – hebt sie ein Stück – beugt sich tief hinab – küsst ihr die Fingerspitzen …
    Mit einem Schlag kippt die Stimmung. »Vive Lafayette!« Er schaudert über ihren Wankelmut, schaudert bis tief ins Innerste. »Vive la reine«, schreit jemand. »Vive la reine!« Der Ruf ist seit einem Jahrzehnt nicht mehr erschollen. Marie Antoinettes Fäuste lockern sich, ihr Mund öffnet sich ganz leicht; er spürt, wie sie gegen ihn sinkt, kraftlos vor Erleichterung. Ein Leibgardist tritt herzu, um sie zu stützen, am Hut die blau-weiß-rote Kokarde. Die Menge jubelt. Die Königin wird nach drinnen gereicht. Der König erklärt sich bereit, nach Paris umzuziehen.
    Das dauert den ganzen Tag.
    Auf dem Weg nach Paris reitet Lafayette neben der Kutsche des Königs und spricht kaum ein Wort. Ab jetzt wird es keine Leibgarde mehr geben, denkt er, außer der, die ich stelle. Ich muss die Nation vor dem König schützen und den König vor dem Volk. Ich habe ihr das Leben gerettet, denkt er. Er sieht wieder ihr wächsernes Gesicht vor sich, die bloßen Füße, fühlt sie gegen sich sacken, während die Menge jubelt. Sie wird ihm das nie verzeihen, so viel weiß er. Die Streitkräfte unterstehen jetzt mir, denkt er, meine Stellung sollte unantastbar sein … Aber neben ihm, im Halbdunkel, schlurft es mit, die namenlosen Massen, das Volk. »Wir haben sie«, singen sie, »den Bäcker, die Bäckersfrau und den kleinen Bäckerjungen.« Die Nationalgarde und die Leibgarde tauschen ihre Mützen, sodass sie alle grotesk aussehen, aber nicht so grotesk wie die bluttriefenden Köpfe, die, Meile um Meile, vor der königlichen Kutsche wippen.
    Das war der Oktober.
    Die Versammlung folgte dem König nach Paris und kam vorerst im erzbischöflichen Palast unter. Der Bretonische Club nahm seine Sitzungen im Refektorium eines leerstehenden Klostergebäudes in der Rue Saint-Jacques wieder auf. Die früheren Bewohner, Dominikanermönche, waren im Volksmund die »Jakobiner« genannt worden, und der Name ging nun auf die Abgeordneten, Journalisten und Geschäftsmänner über, die hier debattierten wie eine zweite Nationalversammlung. Als ihre Zahl wuchs, zogen sie in die Bibliothek um und von dort schließlich in die alte Kapelle, die eine Empore für die Zuschauer hatte.
    Im November wurde die Versammlung in die Salle du Manège, die ehemalige königliche Reithalle umquartiert. Der Saal war eng und schlecht beleuchtet, ungünstig geschnitten, er machte es den Rednern schwer. Die Mitglieder saßen sich in Reihen gegenüber, getrennt durch einen langen Gang. In der Mitte der untersten Reihe standen auf einer Seite der Stuhl des Präsidenten und der Tisch des Schriftführers, auf der anderen das Rednerpult. Die eher Königstreuen saßen rechts vom Gang, die Patrioten, wie sie sich gern nannten, links davon.
    Beheizt wurde der Raum durch einen Ofen in der Saalmitte, und mit der Belüftung haperte es. Auf Dr. Guillotins Anraten wurden zweimal täglich Essig und Kräuter ausgesprengt. Die Galerien für die Öffentlichkeit waren ebenfalls eng, und die dreihundert Zuschauer, die darauf Platz hatten, ließen sich gut kontrollieren und gängeln – nicht notwendigerweise von der Obrigkeit.
    Bei den Parisern hieß die Versammlung ab sofort nur noch »die Manege«.
    RUE CONDÉ: Zum Jahresende ließ Claude ein gewisses Tauwetter in den Beziehungen zu. Annette gab ein Fest. Ihre Töchter luden ihre Freunde ein und die wiederum ihre Freunde. Annette sah sich um. »Und wenn jetzt ein Feuer ausbricht?«, fragte sie. »Die halbe Revolution würde in Rauch aufgehen.«
    Vor dem Eintreffen der Gäste hatte es den üblichen Streit mit Lucile gegeben; nichts ging dieser Tage ohne Streit ab. »Lass mich dir die Haare hochstecken«, redete Annette ihr zu. »So wie früher immer? Mit Blumen?«
    Lucile erwiderte hitzig, dass sie lieber sterben würde. Sie wollte keine Nadeln, Bänder, Blüten, sonstige Behelfe. Sie wollte eine Mähne, die sie herumwerfen konnte – und sollte sie sich zu ein paar Locken bewegen lassen, dachte Annette, dann nur um der größeren Echtheit willen. »Also wirklich«, sagte sie zornig, »wenn du schon Camille spielen musst, dann wenigstens

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