Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
linken Presse nennt man Lafayette nicht mehr bei seinem Titel, sondern bei seinem Familiennamen, Mottié. Der König heißt jetzt Louis Capet. Die Königin ist »die Frau des Königs«.
Es herrscht religiöser Dissens. Rund die Hälfte der französischen Priester ist zum Eid auf die Verfassung bereit. Den Rest nennen sie »eidverweigernd«. Nur sieben Bischöfe unterstützen die neue Ordnung. In Paris werden Nonnen von Fischweibern angegriffen. Durch das Schiff von Saint-Sulpice, wo Pater Pancemont ehern ausharrt, trampelt ein Volkshaufen unter Absingung der herzerfrischenden Weise »Ça ira, ça ira, les aristocrates à la lanterne«. Die Tanten des Königs, Mesdames Adelaide und Victoire, reisen heimlich nach Rom aus. Die Patrioten wollen erst davon überzeugt sein, dass die beiden alten Damen nicht den Dauphin in ihrem Gepäck versteckt haben. Der Papst erklärt die bürgerliche Verfassung zur Lossagung vom Glauben. Dem päpstlichen Nuntius wird der Kopf eines Gendarmen in die Kutsche geworfen.
In einer Bude im Palais Royal stellen sich zwei »Wilde« nackt zur Schau. Sie fressen Steine, brabbeln in unverständlichen Zungen, und gegen ein paar kleine Münzen kopulieren sie.
Barnave, im Sommer: »Noch ein Schritt in Richtung Freiheit muss das Ende der Monarchie bedeuten, noch ein Schritt in Richtung Gleichheit das Ende des Privateigentums.«
Desmoulins, im Herbst: »Unsere Revolution von 1789 war ein Handel zwischen der englischen Regierung und einer Minderheit des Adels, bei dem es den einen darum ging, die Herrschenden aus Versailles zu vertreiben und ihre Schlösser, Häuser und Ämter in Besitz zu nehmen, den anderen darum, uns einen neuen Herrn aufzuhalsen, und allen miteinander darum, uns zwei Kammern und eine Verfassung wie die englische zu geben.«
1791: Achtzehn Monate Revolution, und die neuen Tyrannen sitzen fest im Sattel.
»Der Mann lügt«, sagt Robespierre, »der behauptet, ich hätte jemals dem Gesetzesbruch das Wort geredet.«
JANUAR, Bourg-la-Reine: Annette Duplessis stand am Fenster und blickte hinaus in das Geäst des Walnussbaums draußen im Hof. Von hier aus konnte man die Grundmauern des neuen Häuschens nicht sehen: auch kein Verlust, denn sie wirkten so trübselig wie Ruinen. Sie seufzte, erbittert über das Schweigen hinter ihr im Zimmer. Wahrscheinlich flehten die anderen sie insgeheim schon wieder an, sich doch umzudrehen und irgendetwas zu sagen. Wenn sie hinausginge, würde der Raum bei ihrer Rückkehr vor Anspannung knistern. Ein gemeinsames Tässchen Morgenschokolade – war das denn so viel verlangt?
Claude las das Stadt- und Hofjournal , eine Klatschpostille der Rechten. Seine Haltung hatte etwas Trotziges. Camille beobachtete seine Frau, wie er das derzeit eigentlich ununterbrochen tat. (Drei Tage nach der Hochzeit hatte sie zu ihrer Bestürzung entdeckt, dass die seelenverschlingenden schwarzen Augen kurzsichtig waren. »Und wenn du dir eine Brille zulegst?« »Zu eitel.«) Lucile las Clarissa , in Übersetzung und reichlich unkonzentriert. Alle paar Minuten schnellte ihr Blick von den Seiten hoch und hinüber zu ihrem Mann.
Annette fragte sich, ob das der Grund für Claudes furchtbare Misslaunigkeit war – diese Befriedigung, die ihre Tochter verströmte, die hochroten Wangen, mit denen sie jeden Morgen bei ihnen erschien. Du wünschst sie dir als ewige Neunjährige, die sich mit Puppen zufriedengibt. Sie betrachtete den gebeugten Kopf ihres Mannes. Seine grauen Strähnen waren sauber frisiert und gepudert: Zugeständnisse an das Landleben kamen bei Claude nicht vor. Camille dagegen wirkte wie ein Zigeuner, der seine Geige verloren hat und auf der Suche danach durch die Hecken gekrochen ist; tagtäglich führte er die Bemühungen eines teuren Schneiders ad absurdum, indem er seine Kleider als Sinnbild der zusammenbrechenden gesellschaftlichen Ordnung trug.
Die Zeitung fiel Claude aus der Hand. Camille schreckte aus seiner Trance auf und wandte den Kopf. »Was ist? Ich habe Ihnen doch gesagt, wenn Sie dieses Skandalblatt lesen, wird Sie garantiert etwas schockieren.«
Claude schien außerstande, ein Wort hervorzubringen. Er deutete auf die Seite vor ihm, Annette glaubte fast, ein Wimmern zu hören. Camille streckte die Hand nach dem Blatt aus, Claude presste es an seine Brust. »Sei nicht albern, Claude«, sagte Annette wie zu einem Kleinkind. »Gib Camille die Zeitung.«
Camille überflog die Seite. »Oh, das wird Ihnen gefallen. Lolotte, lässt du uns kurz
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