Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
verwirrend oder auch peinlich sein. Aber von Hérault wissen wir, dass Camille diesem Stottern einige beachtliche Urteilssprüche von entnervten Richtern verdankt. Und ich habe immer wieder beobachtet, dass sein Stottern kommt und geht. Es verschwindet, wenn er wütend ist oder vehement eine Meinung vertritt; es kommt, wenn er sich bedrängt fühlt oder er anderen zeigen will, dass er eigentlich ein lieber Kerl ist, den der Alltag ganz einfach überfordert. Optimist, der er ist, versucht er es auch bei mir nach gut acht Jahren der Bekanntschaft noch manchmal mit dieser Masche – und das nicht ganz ohne Erfolg: An manchen Tagen bin ich so überwältigt von seiner Hilflosigkeit, dass ich lostrabe und ihm die Türen aufreiße.
Alles lief glatt bis zum Neuen Jahr, als er die Verteidigung dieses Paares bei der Glücksspielaffäre in der Passage Radziwill übernahm. Camille lehnt die staatliche Einmischung in, so sieht er es, Angelegenheiten der Privatmoral ab – eine Ansicht, die er nicht nur publik gemacht, sondern auch stadtweit plakatiert hat. Nun war aber Brissot – der ein furchtbarer Hansdampf in allen Gassen ist, im Politischen ebenso wie im Privaten – entrüstet über die ganze Sache. Er attackierte Camille mündlich und setzte einen seiner Schreiberlinge darauf an, in der Presse über ihn herzuziehen. Daraufhin drohte Camille damit, ihn zu vernichten: »Ich schreibe einfach seine Biographie«, kündigte er an. »Ich brauche gar nichts dazuzuerfinden. Er ist ein Plagiator und ein Spion, und was mich bis jetzt daran gehindert hat, ihn zu entlarven, war schiere Sentimentalität, weil wir uns schon so lange kennen.«
»Unsinn«, sagte ich, »es war die Angst vor dem, was er über dich enthüllen könnte.«
»Wenn ich mit ihm fertig bin …«, sagte Camille. Das war der Punkt, an dem ich mich zum Eingreifen genötigt sah. Wir mögen uneins über die Kriegsfrage sein, aber sollten wir irgendwann echte politische Macht übernehmen, dann sind unsere natürlichen Verbündeten Brissot und die Männer aus der Gironde.
Ich wünschte, ich könnte mehr Licht auf Camilles Privatleben werfen. Seine lange gelobte eheliche Treue dauerte, oh, keine drei Monate an – aber aus den diversen Bemerkungen, die er zwischendurch fallenlässt, schließe ich, dass seine Gefühle nicht anderweitig gebunden sind und er die ganze Prozedur nochmals auf sich nehmen würde, um Lucile zu bekommen. Und ihnen ist nichts von der ironischen Kälte zweier Menschen anzumerken, die sich miteinander langweilen, im Gegenteil, sie machen ganz den Eindruck eines wohlsituierten, lebenslustigen jungen Paares, das sich blendend amüsiert. Es gefällt Lucile, ihre Reize an jedem gutaussehenden Mann zu erproben – und auch an solchen, die, wie ich, alles andere als gut aussehen. Sie hat Fréron am Bändel, und nun auch noch Hérault. Nicht zu vergessen General Dillon, diesen romantischen Iren, der einen solchen Narren an Camille gefressen hat. Camille schleppt ihn von ihren nächtlichen Kartenpartien mit nach Hause (denn der General teilt diese Sucht mit ihm) und präsentiert ihn Lucile, als brächte er ihr das wunderbarste Geschenk dar – was gewissermaßen auch stimmt, denn Dillon gilt zusammen mit Hérault als der schönste Mann von ganz Paris, so galant und gewandt und geschliffen und was nicht alles. Von der Befriedigung, die ihr das Kokettieren verschafft, einmal abgesehen: Irgendjemand, vielleicht dieses kleine Biest Rémy, hat ihr sicher auch eingeredet, dass man einen umtriebigen Ehemann an sich bindet, indem man ihn eifersüchtig macht. Wenn das ihr Ziel ist, scheitert sie kläglich. Man nehme nur folgendes Gespräch:
LUCILE : Hérault hat versucht, mich zu küssen.
CAMILLE : Du hast ihm ja auch tüchtig Hoffnungen gemacht. Und, hast du ihn gelassen?
LUCILE : Nein.
CAMILLE : Wieso nicht?
LUCILE : Er hat ein Doppelkinn.
Was sind sie also, diese beiden – einfach zwei charmante, kühle, amoralische Menschen, die beschlossen haben, einander nicht im Weg zu stehen? Das würde niemand unterschreiben, der in unserer Straße lebt, niemand, der Tür an Tür mit ihnen wohnt. Sie spielen mit hohem Einsatz, scheint mir, und beide lauern sie darauf, dass der andere Nerven zeigt und seine Karten auf den Tisch legt. Aber je heftiger Lucile von ihren diversen Verehrern umschwärmt wird, desto mehr Spaß scheint Camille an der Sache zu finden. Wie kann das angehen? Ich fürchte, die Fantasie des Lesers muss das Versagen der meinigen ausgleichen.
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