Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
die Luft frisch, fast kühl. Noch eine Stunde, dann würde die Hitze sich wieder zusammenballen. Noch nie war ich so lebendig wie jetzt, dachte Lucile, mit dieser armen betrogenen Kuh am rechten Arm und dem röhrenknochigen Mannweib am linken. Mehlsack auf der einen Seite, gerupftes Huhn auf der anderen – es war nicht leicht, sie beide die Stufen hinaufzubugsieren.
Die Dienerin, Jeanette, machte ein redlich bestürztes Gesicht bei ihrem Anblick. »Richte Mme Danton ein Bett her«, befahl Lucile. Jeanette breitete auf einem der Wohnzimmersofas ein Federbett über sie, und Gabrielle, dieses eine Mal bereit, sich bemuttern zu lassen, ließ den Kopf in die Kissen sinken und sich von Louise Robert die Nadeln aus dem Haar ziehen, sodass sich die warme, dunkle Mähne über die Armlehne des Sofas und hinab auf den Teppich ergoss. Lucile holte ihre Haarbürste und kniete wie eine Büßerin, während sie mit langen, sanften Strichen die knisternden Strähnen entwirrte; Gabrielle lag mit geschlossenen Augen da, hors de combat . Louise Robert setzte sich auf die blaue Chaiselongue, rückte bis ganz hinten an die Rückenlehne und zog die Füße hoch. Jeanette brachte ihr eine Decke. »Ihre Mutter liebt dieses Möbel über die Maßen«, belehrte sie Lucile. »Man weiß nie, wozu man es alles gebrauchen kann, sagt sie immer.«
»Wenn irgendetwas fehlt, ruft mich.« Lucile steuerte auf ihr Schlafzimmer zu – mit einem kleinen Umweg, um eine Flasche mit einem Restchen schalen Champagner darin mitzunehmen. Erst wollte sie ihn trinken, dann ekelte es sie plötzlich davor. Es schien Wochen her, dass diese Flaschen entkorkt worden waren.
Bei dem bloßen Gedanken wurde ihr flau im Magen. Jeanette trat hinter sie; sie fuhr heftig zusammen. »Legen Sie sich hin, Madame«, sagte die Frau. »Sie ändern nichts, indem Sie sich krampfhaft auf den Füßen halten.« Der grimmige Zug um ihren Mund sagte: Ich liebe ihn auch, also bilde dir nichts ein.
Um sechs Uhr morgens beschloss der König, die Nationalgarde zu inspizieren. Er stieg hinab in die Innenhöfe des Palasts. Er trug einen schlaffen Purpurmantel; den Hut hielt er unterm Arm. Es war eine traurige Veranstaltung. Die Edelleute vor seinen Gemächern fielen bei seinem Anblick auf die Knie und murmelten Treueschwüre, aber die Nationalgardisten beschimpften ihn, und ein Kanonier reckte ihm die Faust ins Gesicht.
RUE SAINT-HONORÉ: »Frühstück?«, fragte Eléonore Duplay.
»Nein, danke, Eléonore.«
»Max, warum wollen Sie nicht einen Happen essen?«
»Weil ich um diese Uhrzeit nie esse«, erwiderte Robespierre. »Um diese Uhrzeit beantworte ich meine Briefe.«
Babette in der Tür. Rundes, morgenfrisches Gesicht. »Das hier schickt Ihnen Vater. Danton unterzeichnet Erklärungen im Rathaus.«
Robespierre ließ das Blatt auf dem Schreibtisch liegen. Er fasste es nicht an, aber sein Blick glitt zu der Unterschrift. »Im Namen der Nation – DANTON .«
»Dann beansprucht Danton also, für die Nation zu sprechen?«, sagte Eléonore. Gespannt beobachtete sie sein Gesicht.
»Danton ist ein untadeliger Patriot. Nur hätte ich erwartet, dass er früher oder später nach mir schickt.«
»Man will Ihr Leben nicht gefährden.«
Robespierre sah auf. »Nein, ich glaube nicht, dass das der Grund ist. Ich glaube, Danton will nicht, dass ich – wie soll ich sagen? – seine Methoden studiere.«
»Das ist natürlich auch möglich«, pflichtete Eléonore ihm bei. Was spielte es schon für eine Rolle? Sie würde alles sagen – wenn es nur bewirkte, dass er in der Sicherheit der Duplay’schen Mauern blieb, dass sein Herz auch morgen noch schlug, morgen und übermorgen und all die Tage danach.
Es mochte gegen halb acht Uhr morgens sein, als die Patrioten ihre großen Kanonen auf den Palast richteten. Hinter diesen Kanonen waren sämtliche Waffen versammelt, die die aufständische Kommune hatte auftreiben können: Musketen, Säbel, Entermesser und Reihe um Reihe der geheiligten Piken. Tausende von aufständischen Kehlen sangen die Marseillaise.
Louis: Was wollen sie nur?
Camille schlief eine Stunde, den Kopf auf die Schulter seiner Frau gelegt.
»Danton.« Roederer starrte ungläubig auf die Erscheinung, die den Türrahmen ausfüllte. »Danton, Sie sind betrunken.«
»Ich muss trinken, um mich wachzuhalten.«
»Was wollen Sie?« Von mir, meinte Roederer damit. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Danton, ich bin kein Royalist, egal, was Sie denken. Ich war in den Tuilerien,
Weitere Kostenlose Bücher